Die Europäische
Union steht angesichts anstehender Osterweiterung und mangelnder
Transparenz europäischer Entscheidungsstrukturen immer
stärker unter Reformdruck. Neben der Frage, welche Rolle
Europa in einer globalisierten Welt spielen soll, stellt sich
außerdem die Frage der politischen Finalität, die
spätestens seit der Rede von Joschka Fischer vor der
Humboldt-Universität im Mai 2000 heftig debattiert wird.
Beim Gipfel von Nizza im Dezember 2000 wurde bereits mit institutionellen
Reformen begonnen, wie z.B. die Festlegung der Größe
und Zusammensetzung der Kommission, die Stimmengewichtung
im Rat sowie der Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen im
Rat. Die Erklärung von Laeken vom Dezember 2001 fasst
alle offenen Fragen über die Zukunft der Union in Fragenbündel
zusammen und beauftragte den Konvent, diese Fragen zu erörtern
und eine Art Verfassung für die Bürger Europas auszuarbeiten.
Die Vorschläge für eine europäische Verfassung
weichen je nach Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten
voneinander ab und setzen somit unterschiedliche Schwerpunkte
für die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses.
Auch weil die Symbolik einer Verfassung eng mit der Tradition
des Nationalstaats verbunden ist, führt die Übertragung
auf die europäische Ebene zu Konfliktstoff und führte
zur Wiederbelebung unterschiedlicher Traditionen und Auffassungen
von Souveränität und Verfassung.
Während
Frankreich lange Zeit eher skeptisch der Idee einer europäischen
Verfassung gegenüberstand, da die Souveränität
in Frage gestellt wurde, favorisierte Deutschland schon früh
eine europäische Verfassung, dies wohl nicht zuletzt
angesichts des sich abzeichnenden Verfassungspatriotismus"
in Deutschland. Außerdem sind zentralistische Traditionen
auf der einen und bundesstaatliche Praxis auf der anderen
Seite häufig in den Vorschlägen für die institutionelle
Weiterentwicklung der EU wiederzufinden.
Zur Gewährleistung
der Menschenrechte und Grundfreiheiten soll die Grundrechtecharta
mitaufgenommen werden und eine Vereinfachung der Verträge
soll zu mehr Transparenz und Bürgernähe führen.
Eine stärkere Berücksichtigung der Subsidiarität
spiegelt sich in der Forderung nach klaren Kompetenzabgrenzungen
zwischen Union und Mitgliedsstaaten wider, während die
Verbesserung der demokratischen Legitimation durch eine Neuordnung
des institutionellen Gleichgewichts der Unionsorgane erreicht
werden soll.
Frankreich
schlug in diesem Zusammenhang 2000 das von Jacques Delors
entwickelte Projekt einer Föderation der Nationalstaaten"
vor, Jospin hingegen lehnte eine europäische Föderation
völlig ab und forderte eine Stärkung der Nationalstaaten.
Für Deutschland ist die Debatte um die Kompetenzabgrenzung
von großer Bedeutung, da es um die Beteiligung der Bundesländer
am Rechtssetzungsprozess der Union geht. In der Frage der
Neuordnung der Institutionen hat Deutschland eine starke Exekutive
auf Basis der Kommission mit einem direkt gewählten Kommissionspräsidenten
vorgeschlagen, auf legislativer Ebene sieht der Vorschlag
ein Zwei-Kammern-System vor, was jedoch auf französischer
Seite nicht unbedingt begrüßt wird.
Einigkeit
zwischen Deutschland und Frankreich besteht jedoch in dem
Ausbau der verstärkten Zusammenarbeit, um die Stärkung
der Integration in einem erweiterten Europa sicherzustellen.
Fischer bezeichnet diese Gruppe von Staaten als Gravitationszentrum",
während Chirac den Begriff Pioniergruppe"
benutzt, beide Konzepte sind aber vergleichbar mit den Kerneuropa-Vorschlägen
von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers von 1994.Auch hier
setzt Frankreich eher auf eine Stärkung des intergouvernementalen
Charakters der EU und schlägt eine variable geometrie"
vor, d.h. immer diejenigen Länder, die gemeinsam über
die gemeinschaftlichen Projekte hinausgehen wollen, sollen
dies auch tun können.
Während
die deutsche Seite eher die Frage der Kompetenzabgrenzung
inklusive einer Rückverlagerung von Kompetenzen als zentralen
Aspekt der geplanten Vertragsrevision ansieht, liegt der Schwerpunkt
der französischen Seite eher auf den Zielen Europas und
beschäftigt sich auch mit einem europäischen Gesellschaftsprojekt
oder der Rolle Europas in der Welt. Die deutsche Diskussion
konzentriert sich demnach vornehmlich auf das Wie"
der zukünftigen Gestalt Europas und Frankreich betont
eher das Wozu" des europäischen Integrationsprozesses.
Obwohl
nach Nizza kurzfristig Divergenzen im Vordergrund standen,
zeichnen sich mittlerweile doch wieder wachsende Gemeinsamkeiten
zwischen deutschen und französischen Positionen ab, wie
z.B. bei der Rolle der Nationalstaaten, die nach Meinung beider
Staaten als zentraler Bezugspunkt für die Bürger
und somit als unverzichtbares Glied der europäischen
Legitimationskette anzusehen sind.
|