Gut
zwei Jahrhunderte nach Aufklärung und Revolution
beherrscht ein letztes Tabu die französische Politik.
"Jeder Politiker liebt die Macht, aber er wird es
nie eingestehen", stellt der Philosoph Alain Etchegoyen
fest. "Statt seinen Willen zur Macht zu bekennen,
schwadroniert er von ethischen Überzeugungen und
dem Kampf für eine bessere Welt." Für Etchegoyen
ist diese versteckte Machtgier "die fundamentale
Lüge der zeitgenössischen Politik".
Wo Tabus herrschen, wuchern Rituale. Und mit ihnen gedeihen
die Mythen, die sie üppig umranken. Kein demokratisches
Land inszeniert Macht so perfekt wie die Franzosen. Ihr
Kult wird mit der pompösen Ästhetik aus 1000
Jahren Monarchie zelebriert. Der Prunk der Paläste,
in denen die Potentaten der Republik herrschen, ist unvorstellbar,
geradezu höfisch antiquiert wirkt das steife Protokoll.
Politik wird in Frankreich als Lust an der Macht inszeniert,
als erotisches Spiel, das Verbote und Tabus erst raffiniert
und spannend machen.
Wenn der Präsident spricht, verströmt das Fernsehen
absolutistischen Glanz. Das "Schloss", wie die
Franzosen den Elysee-Palast noch immer nennen, ist in
feierliches Licht gehüllt. Erhaben wird sein majestätischer
Bewohner ins Bild gerückt - zu ein paar Takten der
Marseillaise. Bei Interviews müssen Journalisten
ihre Fragen im Voraus schriftlich einreichen. Auch "Pressekonferenzen"
unterliegen einem Ritual, das in sonst keiner westlichen
Demokratie mehr denkbar ist. Neben Mitterrand mussten
auf der Bühne regelmäßig ein paar stumme
Minister Platz nehmen.
Innenpolitisch verfügt der französische Präsident
über eine größere Machtfülle als
sein amerikanischer Amtskollege. Diese inszeniert er mit
einem hochentwickelten Sinn für Symbole. Noch immer
geht jede Ansprache des Staatschefs mit dem laizistischen
Amen zu Ende: "Vive la Republique, vive la France!"
Auch nach Niederlagen wird die Botschaft ästhetisch
formvollendet vermittelt: Als Giscard d'Estaing vor zwanzig
Jahren - im Mai 1981 - abgewählt wurde, wandte er
sich ein letztes Mal aus dem "Schloss" ans Volk,
erhob sich und ließ einen leeren Stuhl zurück,
auf dem die Kamera noch lange zu verharren hatte.
Der Schriftsteller und Politiker Alexis de Tocqueville
erkannte schon 1856, wie präsent, ja prägend
das Ancien regime mit seinen absolutistischen Mentalitäten
und Traditionen auch nach 1789 geblieben war. Genauso
scharfsinnig analysierte er den Einfluss der neuen Ideen
und der Intellektuellen auf die Politik und beschrieb
ihn in "Der alte Staat und die Revolution" als
französische Besonderheit. "Die Schriftsteller",
liest man dort, "gaben dem Volk, das diese Revolution
machte, nicht nur ihre Ideen, sondern auch ihr Temperament."
Für die Franzosen wurde eine Republik der Dichter
und Denker der "ideale Staat".
Die Aristokraten des Geistes traten an die Stelle von
Grafen und Herzögen, wurden "eine politische
Macht und am Ende sogar die erste". Die Revolution,
die mit der Kirche brach, ersetzte das Gottesgnadentum
durch die Weihen der Literatur. Noch immer sind alle Politiker
bestrebt, auch als Schriftsteller in Erscheinung zu treten.
Nur wer mit der Feder umzugehen versteht, ist der Ausübung
der Macht würdig.
Das
Selbstverständnis der Nation ist eng mit dem Schicksal
ihrer Sprache verknüpft. 1539 hatte Franz I. ein
Gesetz erlassen, mit dem er das Französische als
Amts- und Verwaltungssprache durchsetzte. Es wurde zum
Motor der Zentralisierung, zum Instrument der Herrschaft.
Alle Dokumente mussten französisch abgefasst werden.
Knapp
100 Jahre später, 1635, gründete Kardinal Richelieu
die Académie Française. Noch immer verteidigen
ihre vierzig "Unsterblichen" die französische
Sprache. Das Schwert tragen die geistvollen Greise allerdings
nur während der Zeremonie ihrer Aufnahme.
Ihr
Schutzherr ist statt des Königs heute der Staatspräsident,
der nach seiner Wahl den Sekretär der Akademie zum
Antrittsbesuch empfangen muss. Man hat diese altehrwürdige
Institution und ihr Eingreifen in den Sprachgebrauch mit
Quoten und Verboten als "typisch französisch"
belächelt. Doch sie ist mehr: Sie verkörpert
die französische Kultur der Macht, in der nach jeder
Ansprache eines Staatspräsidenten die Semantiker
für die Entzifferung der Botschaft fast ebenso gefragt
sind wie die Politologen und die Experten in Sachen Rhetorik.
Zum Wesen der Wahlmonarchie als Krönungsrepublik
gehört ein
schwaches Parlament. Dass es einen Präsidenten stürzen
könnte, ist unvorstellbar. Obwohl vor seiner Wiederwahl
in seinem engsten Umfeld die unglaublichsten Skandale
- bis zum Wahlbetrug - zusammenliefen, war Chirac praktisch
unangreifbar. Durch eine geschickte Patronagepolitik -
zum Beispiel bei den Richtern des Conseil d'État
- hat er sich auch selbst aus dieser Situation gerettet.
Jeder Präsident verbraucht während seiner siebenjährigen
Amtszeit in der Regel mehrere Premierminister.
Mit Prunkbauten, die für ihre Regentschaft stehen,
verewigen sich die demokratischen Monarchen schon zu Lebzeiten
im Stadtbild von Paris. Pompidou ließ das Centre
Beaubourg bauen, später nach ihm benannt. Giscard
machte den Orsay-Bahnhof zum Museum. Mitterrands literarischem
Ehrgeiz und politischer Macht verdankt die gegen jeglichen
gesunden Menschenverstand errichtete Bibliotheque de France
ihre Existenz.
Für Chirac wird in Eiffelturmnähe ein Museé
des Arts Premiers hochgezogen. Der Staatspräsident
liebt die primitiven, die frühen Künste. Als
bekannt wurde, dass wichtige, zunächst im Louvre
ausgestellte Stücke der Sammlung aus einem afrikanischem
Grab geraubt worden waren und dies zum Zeitpunkt ihres
Erwerbs dem französischen Staat sogar bewusst war,
setzte Chirac die Regierung von Nigeria so lange unter
Druck, bis sie auf eine Rückgabe verzichtete.
Trotz aller Versprechungen einer neuen Bescheidenheit
erlag Chirac der monarchistischen Versuchung fast so schnell
wie seine Vorgänger. Die Ausgaben für das "Schloss"
wurden mehr als verdreifacht. Selbst der biedere sozialistische
Premierminister Lionel Jospin genießt die Privilegien
seines Amtes, wenn auch nur die harmloseren. Als seine
Mutter Geburtstag feierte, organisierte der Mustersohn
in Versailles auf Staatskosten ein Essen, das die Köche
des Regierungssitzes Matignon zubereiten mussten.
Die Zahl der Beamten ist in Paris höher als anderswo.
Auch nach den Privatisierungen verfügt der Staat
über das Monopol der Stromherstellung, besitzt Banken,
Versicherungen und Anteile von Automobilfirmen. Die Führungskräfte
in Wirtschaft und Politik sind durch die gleichen wenigen
Kaderschmieden gegangen. Das Land ist darum kaum fähig,
seine Elite zu erneuern. Das französische Machtverständnis
ist arrogant und autoritär. Ihm entsprechen extrem
hierarchische Strukturen. Jeder Direktor ist ein kleiner
König, jeder Abteilungsleiter ein "petit chef":
Kunden wie Bürger werden als Untergebene behandelt.
Ein neuernannter Minister ist in Frankreich zunächst
damit beschäftigt, in Grabenkämpfen gegen die
Kollegen den Zuständigkeitsbereich seines Ministeriums
zu vergrößern. Regieren ist nicht darauf ausgerichtet,
Probleme zu lösen, sondern Macht zu erhalten. Noch
zu Zeiten Mitterrands wurde eigens zu diesem Zwecke sogar
das Wahlverfahren geändert.
Als "mafiöses
System", "Omerta française", schildern
die Autoren Sophie Coignard und Alexandre Wickham gar
die Beziehungen zwischen Politik und Medien. Zwischen
Presse und Staat gibt es kaum eine Trennung. Journalisten
sind oft Komplizen der korrupten Politiker, mit denen
sie das Wissen, die Bekanntheit, manchmal das Bett und
das öffentliche Geld teilen. Mehrere Minister waren
oder sind mit prominenten TV-Moderatorinnen liiert.
Schwarzgeld verteilt die Republik gewissermaßen
legal in beachtlichen Summen: Der Präsident und alle
Minister bekommen Dutzende von Millionen Francs, über
deren Verwendung sie keine Rechenschaft ablegen müssen.
Meist wird das Geld verdienten Mitarbeitern bar ausgehändigt
- steuerfrei. Unter Jack Lang war die Stimmung im Kulturministerium
deshalb so schlecht, weil der Chef fast alles für
sich behielt.
Mehr als acht Millionen Francs zweigte Lang für sein
Pariser Appartement und sein Haus im Lubéron ab.
Als Raymond Barre seinen Abschied nahm, bewilligte er
sich selbst eine Abgangsentschädigung von zehn Millionen
Francs in bar. Alain Juppé wohnte jahrelang - preisgünstig
- in einer 1000 Quadratmeter großen "Sozialwohnung"
der Stadt Paris im exklusiven 7. Arrondissement. Wer das
Gesetz des Schweigens bricht, gilt als Verräter und
wird von der Nomenklatura exkommuniziert. Es ist üblich,
zur Einschüchterung die Steuerfahndung einzusetzen.
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