Macht -inszenierung
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Macht - und ihre Inszenierung in Frankreich

von Jürg Altwegg

Gut zwei Jahrhunderte nach Aufklärung und Revolution beherrscht ein letztes Tabu die französische Politik. "Jeder Politiker liebt die Macht, aber er wird es nie eingestehen", stellt der Philosoph Alain Etchegoyen fest. "Statt seinen Willen zur Macht zu bekennen, schwadroniert er von ethischen Überzeugungen und dem Kampf für eine bessere Welt." Für Etchegoyen ist diese versteckte Machtgier "die fundamentale Lüge der zeitgenössischen Politik".
Wo Tabus herrschen, wuchern Rituale. Und mit ihnen gedeihen die Mythen, die sie üppig umranken. Kein demokratisches Land inszeniert Macht so perfekt wie die Franzosen. Ihr Kult wird mit der pompösen Ästhetik aus 1000 Jahren Monarchie zelebriert. Der Prunk der Paläste, in denen die Potentaten der Republik herrschen, ist unvorstellbar, geradezu höfisch antiquiert wirkt das steife Protokoll. Politik wird in Frankreich als Lust an der Macht inszeniert, als erotisches Spiel, das Verbote und Tabus erst raffiniert und spannend machen.
Wenn der Präsident spricht, verströmt das Fernsehen absolutistischen Glanz. Das "Schloss", wie die Franzosen den Elysee-Palast noch immer nennen, ist in feierliches Licht gehüllt. Erhaben wird sein majestätischer Bewohner ins Bild gerückt - zu ein paar Takten der Marseillaise. Bei Interviews müssen Journalisten ihre Fragen im Voraus schriftlich einreichen. Auch "Pressekonferenzen" unterliegen einem Ritual, das in sonst keiner westlichen Demokratie mehr denkbar ist. Neben Mitterrand mussten auf der Bühne regelmäßig ein paar stumme Minister Platz nehmen.
Innenpolitisch verfügt der französische Präsident über eine größere Machtfülle als sein amerikanischer Amtskollege. Diese inszeniert er mit einem hochentwickelten Sinn für Symbole. Noch immer geht jede Ansprache des Staatschefs mit dem laizistischen Amen zu Ende: "Vive la Republique, vive la France!"
Auch nach Niederlagen wird die Botschaft ästhetisch formvollendet vermittelt: Als Giscard d'Estaing vor zwanzig Jahren - im Mai 1981 - abgewählt wurde, wandte er sich ein letztes Mal aus dem "Schloss" ans Volk, erhob sich und ließ einen leeren Stuhl zurück, auf dem die Kamera noch lange zu verharren hatte.
Der Schriftsteller und Politiker Alexis de Tocqueville erkannte schon 1856, wie präsent, ja prägend das Ancien regime mit seinen absolutistischen Mentalitäten und Traditionen auch nach 1789 geblieben war. Genauso scharfsinnig analysierte er den Einfluss der neuen Ideen und der Intellektuellen auf die Politik und beschrieb ihn in "Der alte Staat und die Revolution" als französische Besonderheit. "Die Schriftsteller", liest man dort, "gaben dem Volk, das diese Revolution machte, nicht nur ihre Ideen, sondern auch ihr Temperament." Für die Franzosen wurde eine Republik der Dichter und Denker der "ideale Staat".
Die Aristokraten des Geistes traten an die Stelle von Grafen und Herzögen, wurden "eine politische Macht und am Ende sogar die erste". Die Revolution, die mit der Kirche brach, ersetzte das Gottesgnadentum durch die Weihen der Literatur. Noch immer sind alle Politiker bestrebt, auch als Schriftsteller in Erscheinung zu treten. Nur wer mit der Feder umzugehen versteht, ist der Ausübung der Macht würdig.

Das Selbstverständnis der Nation ist eng mit dem Schicksal ihrer Sprache verknüpft. 1539 hatte Franz I. ein Gesetz erlassen, mit dem er das Französische als Amts- und Verwaltungssprache durchsetzte. Es wurde zum Motor der Zentralisierung, zum Instrument der Herrschaft. Alle Dokumente mussten französisch abgefasst werden.

Knapp 100 Jahre später, 1635, gründete Kardinal Richelieu die Académie Française. Noch immer verteidigen ihre vierzig "Unsterblichen" die französische Sprache. Das Schwert tragen die geistvollen Greise allerdings nur während der Zeremonie ihrer Aufnahme.

Ihr Schutzherr ist statt des Königs heute der Staatspräsident, der nach seiner Wahl den Sekretär der Akademie zum Antrittsbesuch empfangen muss. Man hat diese altehrwürdige Institution und ihr Eingreifen in den Sprachgebrauch mit Quoten und Verboten als "typisch französisch" belächelt. Doch sie ist mehr: Sie verkörpert die französische Kultur der Macht, in der nach jeder Ansprache eines Staatspräsidenten die Semantiker für die Entzifferung der Botschaft fast ebenso gefragt sind wie die Politologen und die Experten in Sachen Rhetorik. Zum Wesen der Wahlmonarchie als Krönungsrepublik gehört ein
schwaches Parlament. Dass es einen Präsidenten stürzen könnte, ist unvorstellbar. Obwohl vor seiner Wiederwahl in seinem engsten Umfeld die unglaublichsten Skandale - bis zum Wahlbetrug - zusammenliefen, war Chirac praktisch unangreifbar. Durch eine geschickte Patronagepolitik - zum Beispiel bei den Richtern des Conseil d'État - hat er sich auch selbst aus dieser Situation gerettet. Jeder Präsident verbraucht während seiner siebenjährigen Amtszeit in der Regel mehrere Premierminister.
Mit Prunkbauten, die für ihre Regentschaft stehen, verewigen sich die demokratischen Monarchen schon zu Lebzeiten im Stadtbild von Paris. Pompidou ließ das Centre Beaubourg bauen, später nach ihm benannt. Giscard machte den Orsay-Bahnhof zum Museum. Mitterrands literarischem Ehrgeiz und politischer Macht verdankt die gegen jeglichen gesunden Menschenverstand errichtete Bibliotheque de France ihre Existenz.
Für Chirac wird in Eiffelturmnähe ein Museé des Arts Premiers hochgezogen. Der Staatspräsident liebt die primitiven, die frühen Künste. Als bekannt wurde, dass wichtige, zunächst im Louvre ausgestellte Stücke der Sammlung aus einem afrikanischem Grab geraubt worden waren und dies zum Zeitpunkt ihres Erwerbs dem französischen Staat sogar bewusst war, setzte Chirac die Regierung von Nigeria so lange unter Druck, bis sie auf eine Rückgabe verzichtete.
Trotz aller Versprechungen einer neuen Bescheidenheit erlag Chirac der monarchistischen Versuchung fast so schnell wie seine Vorgänger. Die Ausgaben für das "Schloss" wurden mehr als verdreifacht. Selbst der biedere sozialistische Premierminister Lionel Jospin genießt die Privilegien seines Amtes, wenn auch nur die harmloseren. Als seine Mutter Geburtstag feierte, organisierte der Mustersohn in Versailles auf Staatskosten ein Essen, das die Köche des Regierungssitzes Matignon zubereiten mussten.
Die Zahl der Beamten ist in Paris höher als anderswo. Auch nach den Privatisierungen verfügt der Staat über das Monopol der Stromherstellung, besitzt Banken, Versicherungen und Anteile von Automobilfirmen. Die Führungskräfte in Wirtschaft und Politik sind durch die gleichen wenigen Kaderschmieden gegangen. Das Land ist darum kaum fähig, seine Elite zu erneuern. Das französische Machtverständnis ist arrogant und autoritär. Ihm entsprechen extrem hierarchische Strukturen. Jeder Direktor ist ein kleiner König, jeder Abteilungsleiter ein "petit chef": Kunden wie Bürger werden als Untergebene behandelt.
Ein neuernannter Minister ist in Frankreich zunächst damit beschäftigt, in Grabenkämpfen gegen die Kollegen den Zuständigkeitsbereich seines Ministeriums zu vergrößern. Regieren ist nicht darauf ausgerichtet, Probleme zu lösen, sondern Macht zu erhalten. Noch zu Zeiten Mitterrands wurde eigens zu diesem Zwecke sogar das Wahlverfahren geändert.

Als "mafiöses System", "Omerta française", schildern die Autoren Sophie Coignard und Alexandre Wickham gar die Beziehungen zwischen Politik und Medien. Zwischen Presse und Staat gibt es kaum eine Trennung. Journalisten sind oft Komplizen der korrupten Politiker, mit denen sie das Wissen, die Bekanntheit, manchmal das Bett und das öffentliche Geld teilen. Mehrere Minister waren oder sind mit prominenten TV-Moderatorinnen liiert.
Schwarzgeld verteilt die Republik gewissermaßen legal in beachtlichen Summen: Der Präsident und alle Minister bekommen Dutzende von Millionen Francs, über deren Verwendung sie keine Rechenschaft ablegen müssen. Meist wird das Geld verdienten Mitarbeitern bar ausgehändigt - steuerfrei. Unter Jack Lang war die Stimmung im Kulturministerium deshalb so schlecht, weil der Chef fast alles für sich behielt.
Mehr als acht Millionen Francs zweigte Lang für sein Pariser Appartement und sein Haus im Lubéron ab. Als Raymond Barre seinen Abschied nahm, bewilligte er sich selbst eine Abgangsentschädigung von zehn Millionen Francs in bar. Alain Juppé wohnte jahrelang - preisgünstig - in einer 1000 Quadratmeter großen "Sozialwohnung" der Stadt Paris im exklusiven 7. Arrondissement. Wer das Gesetz des Schweigens bricht, gilt als Verräter und wird von der Nomenklatura exkommuniziert. Es ist üblich, zur Einschüchterung die Steuerfahndung einzusetzen.

"Auf Mythen gebaut"

Die französische Gesellschaft ist auf Mythen gebaut. Das Geheimnis ist einer ihrer Stützpfeiler. Das Privatleben bleibt besser geschützt als anderswo. Noch nie hat ein sexueller Skandal die Republik erschüttert. Krankheiten werden - von Pompidou über Mitterrand bis zu Chirac, dem der Volksmund Kehlkopfkrebs andichtet, systematisch vertuscht.
Die Medien sind meistens informiert und schweigen. In einer Gesellschaft, die reflexartig die Geheimnistuerei kultiviert, bekommt das Gerücht einen entscheidenden Stellenwert: Nur zu oft sagt es die Wahrheit, die offiziell verschwiegen wird. Über Mitterrand zirkulierte kaum eine Legende, die sich im Nachhinein nicht bestätigt hätte.
Die andere Seite des absolutistischen Machtverständnisses ist die herrliche Tradition des subversiven Humors. Er ist ein Ventil, reguliert das System. Die Narrenfreiheit der Kabarettisten und Chansonniers ist grenzenlos. Selbst in den öffentlichrechtlichen Medien werden Prominente und Politiker in einer Art und Weise lächerlich gemacht, die hierzulande kaum nachvollziehbar ist - und durchaus auf Kosten der menschlichen Würde geht. Doch ein Staatspräsident strengt keine Verleumdungsklagen an. Er darf sich praktisch alles erlauben - aber er kann sich kaum wehren.
"Noch", sagte Giscard d'Estaing etwa spitz und spöttisch zu einem Journalisten, der ihn als einzigen lebenden ehemaligen Staatspräsidenten bezeichnete. Die Anspielung haben alle verstanden: Bald sei Chirac der zweite - doch der hat sich seine zweite Amtszeit im zweiten Wahlgang gegen den Nationalisten Le Pen geholt, und ist diesem Schicksal damit vorerst entgangen. Die Rolle des ehemaligen Präsidenten war lange Zeit die schwierigste in der Fünften Republik. Seit er zum Präsidenten des europäischen Verfassungskonvents ernannt wurde, hat sich diese Situation etwas entspannt. Die meisten überleben den Verlust der Macht nur kurz: de Gaulle wie Mitterrand starben kurz nach dem Auszug aus dem Elysée.
Chirac erlitt schon während seiner ersten Amtszeit eine Demontage des absolutistischen Erbes. Betrieben von Giscard, der seit 20 Jahren unter dem Abschied von der Macht leidet, wurde die Amtszeit des Präsidenten von sieben auf fünf Jahre verkürzt.
Die Maßnahme ist vernünftig, sie wird die Politik modernisieren und die Macht demokratisieren. Die dritte und längste Regierung eines konservativen Präsidenten und eines sozialistischen Premierministers veränderten das Funktionieren des Staates dergestalt, dass auch die politische Elite eine Änderung für geboten hielt. Die ideologischen Grundlagen der Nachkriegszeit - Gaullismus und Kommunismus, die mit Pathos an Frankreichs Größe und Macht festhielten, die Concorde bauten und eine eigene Atombombe - sind kaum noch von Bedeutung.
Chiracs Zustimmung zum "quinquenat" reduziert die Macht nun auch noch in ihrer zeitlichen Dimension. Ein Präsident ohne Genie und Fortüne, von seinem Vorvorgänger Giscard, dem er einst als Premierminister diente, in Zugzwang gebracht, dankt ab - in mittelmäßigen Raten. Eine Kultur bröckelt, ihr Glanz erlischt. "Le pouvoir" wird nicht mehr sein, was es noch immer ein bisschen ist.


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