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• Goethe, Europäer und Kosmopolit
"Goethe hat sich als Europäer betrachtet, als ein Bürger Europas oder, wie es damals hieß, als ein Kosmopolit. Das war nämlich die eigentliche Bedeutung, die man dem Wort "Kosmopolit" beimaß: Kosmopolit ist, wer Fremdsprachen spricht, alle Länder liebt, wer zum Beispiel der Ansicht ist, daß die beste Architektur in Italien, das beste Theater aber in Frankreich zu sehen sei, daß wiederum die schönste Dichtung vielleicht, ganz gewiß aber die schönste Musik aus Deutschland komme. Darin besteht das Kosmopolitische. In der geistigen Öffnung nämlich und der Weigerung zu behaupten, daß eine Zivilisation der anderen überlegen ist. (…) Für Goethe aber steht das Europa der Moderne mit seiner von ihm vermittelten Botschaft von Humanismus, Schönheit und Toleranz usw. in direkter Nachfolge der griechischen Antike. Francis Claudon, Lehrstuhlinhaber für vergleichende Literaturwissenschaft, zeichnet für uns in diesem Interview das Leben Goethes nach. Darin kommt er sowohl auf Goethes produktive Rezeption anderer Autoren zu sprechen, seine Rezeption in Frankreich, als auch auf den Einfluss, den er selbst auf seine Zeitgenossen, Schriftsteller und nachgeborene Intellektuelle ausgeübt hat. ©2000
Prof. Francis CLAUDON - Prof. für Vergleichende Literatur-
wissenschaft an der Univ. Paris XII


Deutsch-Französisches Forum: Goethe hat in dem Geistes-leben seiner Zeit eine ganz besondere Rolle gespielt. Lassen sich die Gedankenströmungen, die Autoren, die Denker, Musiker und politischen Persönlichkeiten, die ihn beeinflusst haben, näher bestimmen?

Francis Claudon: Wir haben 1999 Goethes 250. Geburtstag feierlich begangen: Goethe wurde im Jahre 1749 in Frankfurt geboren. Vielleicht sollte deshalb vorab daran erinnert werden, dass sich Deutschland zu jener Zeit grundlegend von dem heutigen Deutschland, aber auch von dem Deutschland im 19. Jahrhundert unterscheidet. Deutschland ist damals zerstückelt, bildet einen Flickenteppich von Kleinstaaten, unter denen es keine Grossmacht gibt, oder, um es genauer zu sagen, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation steht - zumindest theoretisch - unter der Führung des Hauses Habsburg, das seit Jahrhunderten den Reichskaiser stellt. Den Habsburgern steht im Norden - eigentlich müsste ich im Nordosten sagen - das Haus Brandenburg gegenüber, d.h. Preussen.

Seit dem 30jährigen Krieg, d.h. seit Mai 1618 dient Deutschland den europäischen Mächten lange, eigentlich bis zum Sturz Napoleons, als Kriegsschauplatz. Dies war in der Stadt Frankfurt, einer freien Reichsstadt mit starkem Bürgertum, einer mächtigen jüdischen Bank usw., ganz besonders spürbar. So wurde die Stadt beispielsweise von französischen Truppen besetzt. Dieses besondere Klima der Stadt, in der Goethe geboren wurde und in der er seine Jugendjahre verbrachte, ist uns aus Goethes eigenen Bekenntnissen aus seinem Erinnerungsbuch Dichtung und Wahrheit wohl bekannt. Zwei Erinnerungen sind in Goethes Kindheit von besonderer Bedeutung: die erste betrifft einen französischen Offizier, den die Eltern Goethes - sein Vater, ein Bewunderer Preussens, war Jurist - im Jahre 1764 in ihrem schönen, heute im Hirschgraben wieder errichteten Haus einquartiert hatten und der alle Vorzüge und Schwächen eines Höflings, Parisers und Mitglieds der guten französischen Gesellschaft aufwies: Frivolität, Koketterie, Höflichkeit, Bildung und die Liebe zum Theater. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass dieser Offizier für einen gewissen Pariser Flair und Schick und zudem für die Verbreitung des Erfolges der Enzyklopädisten sorgte, die zu eben dieser Zeit in aller Munde waren.

Forum: Sie sprechen von dem Comte de Thoranc…

F. Claudon: Genau. Die zweite wichtige geistige Anregung, die sich im übrigen aus dem genannten Einfluss ergibt, besteht darin, dass Goethe frühzeitig seine Neigung zum Theater entdeckt. Er kommt zum Theater durch ein kleines Puppenspiel, das er besass und mit dem er zur grossen Freude seiner Eltern zusammen mit seiner Schwester spielte. Das Theater wird dann später zu einem steten und zentralen Bezugspunkt in Goethes Werk werden; und das nicht nur, weil er selbst zahlreiche Stücke schreiben sollte, sondern auch weil einer seiner schönsten Romane, Wilhelm Meister, um die Bestimmung zum Theater und den Theaterberuf kreist. Um auf Goethes Kindheit zurückzukommen, so konnten mit dem Puppentheater natürlich Sagen wie beispielsweise die damals in Mitteleuropa weitverbreitete Faustsage aufgeführt werden, daneben aber auch Stücke, die gerade Mode waren und die dann parodiert und nachinszeniert wurden - ganz so wie jetzt die Verfilmungen grosser literarischer Erfolge für das Fernsehen. Es kann gar nicht oft genug betont werden, dass zu der damaligen Zeit die erfolgreichsten Theaterstücke aus Paris kamen: die Komödien und vor allem auch die nachklassischen Tragödien im Stil Racines, wie z.B. die Stücke Crébillons und Voltaires, und auch wie sehr Europa im 18. Jahrhundert ein - um es mit den Worten von Louis Réaux zu sagen - "französisches Europa der Aufklärung, ein französisches Europa im Zeitalter der Aufklärung" gewesen ist. Die Kenntnis der französischen Sprache, Sitten und Kultur ist für jedermann das Mass zur Bestimmung seines guten Geschmacks, seiner Bildung und seiner Gewandtheit, selbst wenn man sich dem, wie es teilweise auch für Goethe gilt, später widersetzte.

Wenn wir nun auf ein zweite Reihe von späteren Einflüssen zu sprechen kommen, so handelt es sich um Goethes Lektüre, denn wir haben es hier mit einem intelligenten und gebildeten jungen Mann zu tun. Sein Vater möchte, dass er - wie er selbst - eine juristische Laufbahn einschlägt. Was daraus geworden ist, ist ja hinreichend bekannt! Allerdings hat Goethe durchaus ernsthaft rechtswissenschaftliche Studien betrieben. Nebenher liest er aber zeitgenössische deutsche Autoren. Einen dieser Autoren, für den auch die Goethe-Literatur lobende Worte findet, hat Goethe besonders geschätzt: den Dichter Klopstock, Verfasser des Messias, eines überaus gefühlvollen christlichen Epos, wie sie zu dieser Zeit so zahlreich waren. Neben Klopstocks Werk müssen aber noch andere Werke - wie z.B. Miltons Lost Paradise - Erwähnung finden, die zwar durchaus religiöser Inspiration sind, in denen das Religiöse allerdings vor allem Gelegenheit zur Beschreibung der Gefühlsstimmungen und des Seelenlebens bietet. Was ich hier betonen möchte, ist, dass Goethe sich durch den Einfluss seiner Zeit, durch seine persönlichen Neigungen und seine Lektüre von Anfang an in einer Übergangs- und Mittlerlage befindet. Er tritt das Erbe dessen an, was ihm unmittelbar vorangeht, und prägt das, was unmittelbar auf ihn folgen sollte. Ich glaube, dass diese besondere Funktion im Grunde Goethes wesentliche Eigenschaft darstellt.

Schliesslich macht sich bei Goethe etwa zur selben Zeit eine dritte Einflussquelle geltend, als er nämlich nach Leipzig fährt, um dort seine Rechtsstudien fortzusetzen. Leipzig ist eine alte Bürgerstadt, verfügt allerdings nicht über einen Hof. Sie steht in einer Handelstradition, was ihr ein stark kosmopolitisch gefärbtes Gepräge verleiht. Man nennt die Stadt auch le petit Paris, weil dort ein Kreis von Dichtern wie Hagedorn, Gellert, Gottsched usw. anzutreffen ist, der französischen Gelegenheitsdichtungen nacheifert. Ich benutze diesen Terminus hier durchaus absichtsvoll zur Kennzeichnung unbedeutender Versdichtungen und Gattungen, die zumeist von Hofdichtern verfasst werden. Goethe steht zwar in Kontakt zu dieser Mode, aber selbst wenn er einige Gedichte in dieser Geschmacks-richtung verfertigt, begreift er bald, dass es nicht das ist, was er für sich anstrebt. Genau zu diesem Zeitpunkt verlangt sein Vater seine sofortige Rückkehr nach Frankfurt, um ihn sodann an die Universität nach Strassburg zu schicken. Dieser Abschnitt seines Lebens wird für ihn äusserst wichtig sein. Strassburg ist ja bekanntlich eine französische Stadt. Ich begehe diesen Fehler natürlich mit Absicht, da Strassburg zwar keine deutsche Stadt ist, als deutsch geprägte Stadt aber seit dem 30jährigen Krieg, seit dem Westfälischen Frieden von 1648 in den politischen und militärischen Einflussbereich des französischen Königreichs fällt. Unter Ludwig XIV. wurde Strassburg schliesslich dem französischen Königreich einverleibt. Das erklärt, warum der Stadt auch ein französischer Gouverneur vorsteht und warum es dort französische Offiziere, ein französisches Theater usw. gibt. Trotzdem ist Strassburg eher eine von zwei Kulturen geprägte Stadt, in der die Mehrheit der Bürger, das intellektuelle, kulturelle und gesellschaftliche Leben grösstenteils der deutschen Kultur angehören.

An der Universität Strassburg studiert Goethe natürlich Jura, aber er wird dort auch in zweifacher Hinsicht beeinflusst. Zum einen von dem Universitätslehrer Herder, einem Denker mit ausgesprochen vielseitigem und bewegtem beruflichen Lebensweg, der ihn beispielsweise hoch oben in den Nordosten Europas nach Riga und über Strassburg zum Abschluss seines Lebens im selben Moment wie Goethe nach Weimar führt. Herder hat sich als Philologe, Anthropologe und Ethnologe um die Volkskultur verdient gemacht. Ebenso wie später die Gebrüder Grimm sammelt er alle Spuren jenes versunkenen Deutschlands, jener germanischen Lebensform, die zumindest gemessen an den damaligen Normen nicht an Eleganz, Kultiviertheit, Attraktivität und Universalität der französischen Kultur herangereicht hatte. Durch Herder werden dem jungen Goethe die Reichtümer des deutschen Kulturerbes nähergebracht. Eine weitere Inspirationsquelle hat, auch wenn sie nicht von menschlicher Gestalt ist, gleichwohl mit Herder und dem deutschen Kulturerbe zu tun: es handelt sich um den Strassburger Dom. Diese prachtvolle gotische Kathedrale erhebt sich umringt von Gebäuden im reinsten Baustil des 18. Jahrhunderts, wie z.B. dem Palais Rohan, dem Amtssitz des Gouverneurs, der Präfektur, dem Theater usw. Ihr Anblick hinterlässt bei Goethe einen tiefen Eindruck. Angesichts der Schönheit des rosa Sandsteindomes ist er tief ergriffen. Diese Ergriffenheit verstärkt noch die Wirkung von Herders Worten hinsichtlich der Würde der altdeutschen Kultur. Ich glaube, dass Goethe genau in diesem Augenblick begreift, dass, wenn er etwas zu sagen hat, er sein Talent in dieser Richtung entfalten sollte. Dies tritt in aller Deutlichkeit in den Liebesgedichten zutage, die er für die junge Elsässerin Frédérique Brion, die Tochter des Dorfpastors von Sesenheim 60 Kilometer nördlich von Strassburg, geschrieben hat. Eines der berühmtesten Gedichte, das in dieser Zeit, durch die Liebe zu Frédérique und durch die Wiederentdeckung des Volkstümlichen angeregt wurde, ist das Heidenröslein. Dieses Gedicht ist derart vollkommen, dass man es gemeinhin für ein anonymes Volkslied hält. Dabei handelt es sich um eine von Goethe verfasste volksliedhafte Nachahmung, ähnlich wie der schottische Volksschullehrer Macpherson Gedichte des Ossian nach- und umgedichtet hat.

An dieser Stelle muss allerdings auch der Einfluss der englischen Literatur erwähnt werden. Als Goethe sich mit der Pastorentochter Brion in einer Liebesidylle ergeht, glaubt er eine Geschichte nachzuleben, wie er sie bereits in Goldsmiths Landprediger von Wakefield gelesen hatte. Dazu muss vorausgeschickt werden, dass England zu diesem Zeitpunkt als das Mutterland des Romans galt, u.a. mit dem empfindsamen Roman eines Richardson und eines Goldsmith, dessen Landprediger Goethe so stark berührt hatte.

Sein Aufenthalt in Strassburg, die Entdeckung des versunkenen Deutschlands und der altdeutschen Kultur haben ihn somit also in seinem Entschluss bestärkt, Schriftsteller zu werden und das Herdersche Œuvre fortzusetzen. Goethe liefert dann eine erste Produktion bedeutender Werke, die sogleich als Meisterwerke gelten: Werther, Prometheus, Goetz von Berlichingen, aufgrund deren an Goethe die ausserordentliche Einladung des Herzogs von Weimar ergeht, der ihn 1775 zu sich nach Weimar kommen lässt.

Goethes Weimarer Zeit entspricht dann einer anderen Periode seines Geisteslebens. Es handelt sich deswegen um eine grundsätzlich andere Periode, weil er hier eine Art geistige Erhebung erfährt. Durch seine Lektüre wird er zuallererst von den Klassikern im traditionellen Wortsinn, d.h. von der lateinischen und griechischen Literatur, tief geprägt. Sodann wird er in seinen bereits bestehenden philosophischen Neigungen von Schiller, der sich in Weimar niederlässt und mit dem er Freundschaft schliesst, bekräftigt. Durch ihn lernt er beispielsweise die auf Kants Philosophie gründenden Theorien des Erhabenen kennen: ein ausserordentlich wichtiger Einfluss.

In seiner Weimarer Zeit, die etwa bis 1805-1806 andauert, haben die Ereignisse in Frankreich, die französische Revolution und die Revolutionstheorien, eine nicht minder starke Wirkung auf Goethe. Goethe hatte der Schlacht von Valmy beigewohnt, was ihn übrigens dazu veranlasst hat, eines seiner Werke Campagne in Frankreich zu betiteln. Er schrieb bei dieser Gelegenheit den gern zitierten Satz, dass er dabei gewesen sei, als "eine neue Epoche der Weltgeschichte" begonnen habe. Diese neue Epoche ist die Epoche der Ideologie, die Epoche der Schriftsteller wie Chateaubriand, aber auch die Epoche der ersten Theoretiker der Romantik, z.B. der Gebrüder Schlegel. Diese haben übrigens, was äusserst bedeutsam ist, Goethe, der ja in Deutschland zumindest in der literarischen Welt eine Berühmtheit darstellte, um Unterstützung gebeten. Interessanterweise ist er diesem Ansinnen der jungen Generation nach Protektion allerdings nicht nachgekommen. Die Erklärung für diese Ablehnung führt uns wieder in das Jahr 1806 zurück. Von diesem Zeitpunkt an ist er nämlich voller Bewunderung für Napoleon, dem Preussen in der denkwürdigen Schlacht bei Jena 1806 unterlegen war. In diesem Zusammenhang ist nicht hinreichend bekannt, dass aus eben diesem Anlass auch eine Gruppe von Franzosen bei Goethe vorstellig wurde, darunter Vivant Denon, der die Beschlagnahmungen durchführen sollte und dem im übrigen 1999 im Louvre eine Ausstellung gewidmet wurde. Dieser wendet sich also an Goethe und bittet ihn bezüglich der Sammlung des Herzogs von Weimar Zurückhaltung an den Tag zu legen, was dann auch geschieht. Im Gefolge Denons ist übrigens auch ein gewisser Henri Beyle, der erst später unter dem Namen Stendhal bekannt werden sollte. So ist Deutschland also im Anschluss an die völlig überraschende Auslöschung des Königreichs Preussen wieder einmal unter französische Herrschaft, französischen Einfluss und napoleonischen Geist geraten. Bekanntlich hat Napoleon Goethe ja einige Jahre später den Orden der Ehrenlegion verliehen, eine Auszeichnung, die dieser stets mit grosser Genugtuung trug und selbst nach Napoleons Sturz noch behält.

Eben dieser Einfluss, der sich wohl als "Ideologie" bezeichnen liesse, erklärt ein derartiges, anhaltendes Missverständnis, das schliesslich zu der berühmten, ihm stets zum Vorwurf gemachten Formel führt, die er, wenn ich mich recht erinnere, in einem Gespräch mit Eckermann gefunden hat: "Das Klassische nenne ich gesund, und das Romantische krank". Das sagt alles. Goethe ist der berühmteste Denker und Schriftsteller Deutschlands, aber der Romantik gegenüber verhält er sich ablehnend und weist ihren Einfluss zurück. Ich denke, dass an dieser Stelle die Liste der geistigen Einflussfaktoren auf Goethe endet, weil uns nunmehr aufgrund seiner herausragenden und Beispiel gebenden Stellung eher die Kehrseite der Geschichte beschäftigen sollte, ich will sagen: der Einfluss, den Goethe auf das Europa des Geistes und auch auf die Franzosen ausgeübt hat.

Forum: Mit seinem breiten und umfassenden Werk ist Goethe zu einer zeitlosen Kulturfigur geworden. Welche deutschen oder europäischen Autoren und Künstler hat er seinerseits beeinflusst? Könnten Sie dabei vielleicht besonders auf die Rezeption seines Werks durch französische Schriftsteller und Denker eingehen?

F. Claudon: Genauso wie Goethe in manchen Bereichen, bei der Herausbildung seines Denkens und seines literarischen Genies beeinflusst worden ist, ging umgekehrt auch von ihm eine unbestreitbare Wirkung aus, die sich in zweierlei Hinsicht bestimmen lässt. Ich würde sagen, dass er auf die einen durch seine Werke, auf andere wiederum durch seine Person gewirkt hat.

In Frankreich gibt es diesbezüglich zwei berühmte Fälle. Am berühmtesten ist fraglos der Besuch von Madame de Staël. Auf der Flucht vor Napoleon und seinen Zurechtweisungen kommt sie nämlich 1807 nach Deutschland. Dazu erzähle ich immer gerne eine kleine Anekdote, die mit dem Vorwort dieses für die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen, für die Geschichte der Romantik und auch Europas zentralen Buches De l'Allemagne zu tun hat. Als sie dieses Buch im Jahre 1810 veröffentlichen möchte, tritt die Zensur in Gestalt des Polizeiministers Savary, des Herzogs von Rovico, auf den Plan, welcher ihr schriftlich - in etwa - folgende Worte mitteilt, die in dem Vorwort zu diesem Buch wieder abgedruckt sind: "Madame, ich persönlich habe die Veröffentlichung ihres Werkes untersagt. Dieses Buch ist ganz und gar nicht französisch, und wir sind noch nicht so weit gesunken, dass wir bei Völkern, die wir besiegt haben, nach Vorbildern zu suchen hätten."

Was liest man denn in Über Deutschland? Man stösst dort zum Beispiel auf eine lange, ausführliche und eloquente Darstellung der Gespräche, die Madame de Staël mit Goethe, den sie in Weimar besuchte, geführt hat. Sie analysiert sehr genau die Stärken von Goethes Genie, die alsbald die Richtung vorgeben und die Spuren bilden werden, in denen Goethe wirken wird: Werther, Die Wahlverwandschaft und Wilhelm Meister in bezug auf den Roman, Faust oder Goetz von Berlichingen hinsichtlich des Theaters und bei der Dichtung schliesslich im wesentlichen die Gedichte nach 1810.

An dieser Stelle möchte ich an einen anderen Franzosen erinnern, der sich mit Goethe gewissermassen auf Distanz gemessen hat. Es handelt sich um Chateaubriand. Dazu ist aber ein kleiner literarhistorischer Rückblick vonnöten. 1761 veröffentlicht Jean-Jacques Rousseau Die neue Heloise, die ein grosser Erfolg ist und überall, bei den Engländern, aber auch bei Goethe im Werther auf Nachahmer stösst. Goethe hat Werther ausdrücklich als eine Antwort sowohl auf Die neue Heloise als auch auf den bereits zitierten Landprediger von Wakefield bezeichnet. Goethes Werther ist ein Triumph. Nach seiner Übersetzung ins Französische antwortet darauf ein junger Mann namens François-René de Chateaubriand mit seinem Buch René. Zwischen Goethe und Chateaubriand herrscht genauso eine Rivalität wie zwischen Chateaubriand und Byron, dem Autor von Childe Harold. Der gemeinsame Nenner zwischen Goethes Werther, Chateaubriands René und Byrons Ritter Harold lässt sich leicht erraten: Sie sind alle drei Ausdruck des Leidens an diesem Jahrhundert.

Ich möchte hier einige Sätze aus Chateaubriand anführen: "Thema dieses Buches ist die völlig neuartige und unglücklicherweise allzu weit gehende Sittlichkeit. Es wendet sich an die so zahlreichen Opfer des Beispiels des jungen Werther und Rousseaus, die das Glück anderswo als in den natürlichen Gefühlsregungen des Herzens und den üblichen Bahnen der Gesellschaft gesucht haben." So heisst es im Jahre 1802 in bezug auf René, der damit also ausdrücklich als eine französische und christliche Entgegnung auf den deutschen Selbstmörder Werther präsentiert wird. Es sei daran erinnert, was Chateaubriand in seinen Jahre später verfassten Erinnerungen von jenseits des Grabes über Goethe schreibt: er nennt ihn den Dichter des Körperhaften im Gegensatz zum Geistigen, den pantheistischen Dichter im Gegensatz zum christlichen Dichter etc. In dem Versuch, die Trilogie Goethe-Chateaubriand-Byron und Werther-René-Childe Harold einzuordnen, heisst es ausserdem: "Lord Byron lebte weiter, obwohl er als Kind seiner Zeit - wie ich und wie Goethe vor uns - das Leid und das Unglück ausgedrückte" und weiter: "[…] ich will vorausschicken, dass Ossian, Werther, die Träumereien des einsamen Spaziergängers und Bernardin de Saint Pierres Naturstudien in meiner frühen Jugend meiner Gedankenwelt nicht unähnlich waren."

Eine weitere Wirkungsgeschichte, an die erinnert werden muss, betrifft einen ganz anderen Bereich, nämlich die Beziehungen zwischen Goethe und Beethoven. Der weltberühmte Komponist war voller Bewunderung für Goethe. Romain Rolland hat deren Verhältnis untersucht und erinnert in Goethe und Beethoven, einem von zahlreichen Bänden, daran, dass der in den Jahren 1814 bis 1820 von den Gedichten Goethes begeisterte Beethoven gerne mit ihm zusammen gearbeitet und einige seiner Texte vertont oder auch zusammen mit ihm eine Oper komponiert hätte. So hat er ihn beispielsweise in Teplitz in Böhmen aufgesucht. Goethe allerdings war von diesem ihm so ungleichen Mann, der ihn zu ausgedehnten Spaziergängen drängte, zutiefst befremdet, während Goethe im Grunde ein Höfling war, ein wohlerzogener Mann, der mit dem Adel verkehrte und sich auf der Strasse in einem Grusszeremoniell erging, wenn er den Grossherzog oder den österreichischen Kaiser zu Gesicht bekam. Beethoven spazierte hingegen mit seinem Hut auf dem Kopf vor sich hin und nahm ihn auch zur Begrüssung von Aristokraten nicht ab. Er wollte Goethe unbedingt im Gespräch vereinnahmen und von ihm wissen, was die Welt wohl denken würde, wenn sie zusammenarbeiten würden. In bezug auf Beethoven lässt sich von einem negativen Einfluss Goethes oder genauer gesagt von einer Enttäuschung sprechen, welche durchaus mit der Enttäuschung der Romantiker gleichzusetzten ist, darüber, dass Goethe sie auf Distanz hielt.

Vergessen wir dabei auch nicht Goethes Einfluss auf Schubert, der ja im übrigen sehr viele seiner Texte vertont hat. Schubert ist Goethe zwar niemals persönlich begegnet, hat ihm aber einige seiner Werke zugesandt, auf die Goethe ihm allerdings nicht geantwortet hat. Dieser olympische Zug Goethes nach 1810 ist eine seiner bis an sein Lebensende anhaltenden Grundeigenschaften. Er hat sich in einer Art Elfenbeinturm eingeschlossen. Er verhält sich im übrigen auch Heinrich Heine gegenüber nicht anders, der Goethe äusserst gemischte Gefühle entgegenbrachte. Zwischen Goethe und den deutschen Künstlern egal welcher Kunstform und unabhängig davon, ob sie aus seiner Epoche oder der darauf folgenden stammten, ist somit also keine Verbindung zustande gekommen, hat sich kein Band geknüpft.

Wenn man mich also fragt, mit welchen Denkern Goethe nolens volens den engsten Kontakt unterhalten hat, so meine ich, dass es sich wohl um Franzosen handeln dürfte. Das ganze 19. und - etwa bis zum Weltkrieg - auch das 20. Jahrhundert über sind sowohl der Dichter als auch sein Werk bekannt. So hat beispielsweise Fernand Baldensberger, einer der Begründer der Fachdisziplin der Vergleichenden Literaturwissenschaft, der auch ich angehöre, ein Buch mit dem Titel Goethe in Frankreich geschrieben, in der er die Geschichte all derjenigen erzählt, die sich auf Goethe bezogen haben. So ist also festzustellen, dass trotz der Kriege, trotz diverser deutsch-französischer Auseinandersetzungen Goethe auf die französischen Dichter und Denker stets eine grosse Faszination ausgeübt hat, darunter auch auf Gérard de Nerval, der 1840 zuerst Faust übersetzt - er ist natürlich nicht der einzige -, dann aber auch viele Gedichte sowie andere Dichter wie Uhland, Bürger, Schiller usw. Im Vorwort dazu spricht er von Goethe in ähnlich lobenden Worten wie Madame de Staël, unterstreicht in seiner Dichtung aber Aspekte wie das Volksliedhafte und das Pantheistische, die Madame de Staël vielleicht nicht in dieser Klarheit hervorgehoben hatte. Dabei stand das deutsch-französische Verhältnis 1840 gar nicht zum Besten. Es ist die Zeit der Auseinandersetzung um den Rhein, als ein Poet namens Becker sein Rheinlied verfasst, auf das Alfred de Musset wie folgt reagiert: "Er passte in ein Glas, wir haben ihn uns geholt, Euren deutschen Rhein." Es ist dabei durchaus beachtenswert, dass Gérard de Nerval zu eben diesem Zeitpunkt offen seine Bewunderung für Deutschland und Goethe kundtut, in dem er ein notwendiges, ja unentbehrliches Bindeglied für die Beziehungen sieht, die die beiden Nationen unterhalten sollen.

Es lassen sich aber auch noch andere Beispiele anführen. Nach 1870 war man der Ansicht, dass die Niederlage Frankreichs gegen Preussen in Sedan zum Teil auf die Mängel im französischen Hochschulwesen zurückzuführen sei. Deswegen wollte man eine französische Hochschule nach deutschem Vorbild errichten. In diese Zeit fällt dann auch die Einrichtung einiger bedeutender Lehrstühle für deutsche Literatur und Sprache, z.B. mit den Lehrstuhlinhabern Lichtan Berger oder Andler. Diese ehrwürdigen Germanis-ten, für die Goethe auch weiterhin die Notwendigkeit versinnbildlichte, das Band zwischen Deutschland und Frankreich aufrechtzuerhalten, gehörten stets zu seinen grossen Bewunderern. Folglich dachten sie, dass der deutsche Dichter für Frankreich und die Franzosen eine Bereicherung bedeuten könne, dass er ihnen etwas mitzuteilen habe.

Später im 20. Jahrhundert widmet Proust Goethe in seinem Roman Die Entflohene einige schöne Worte. Als Albertine sich dem Liebeswerben des jungen Marcel hat entziehen können, tröstet sich dieser mit der Lektüre der Wahlverwandschaften, einer schönen Geschichte, die erzählt, wie sich unterschiedliche Charaktere begegnen und auch wie sie sich zerstören, ganz so wie chemische Substanzen, die ja auch explosive Mischungen produzieren.

Gide war ein nicht minder grosser Bewunderer Goethes. Während er in dem geschichtlich dramatischen Zeitraum vom Juni 1940 sein Tagebuch führt, liest er parallel dazu Faust II und schreibt folgenden Eintrag: "Welch Schönheit entdeckt man doch immer wieder darin. Welch Reichtum. Alles ist dort von Leben förmlich durchdrungen. Goethe nähert sich mit so grosser Natürlichkeit den Regionen des Erhabenen, dass man sich mit ihm dort stets auf gleichem Fusse fühlt." Das ist schon ziemlich erstaunlich: Gerade als die Nazihorden und die Wehrmacht in Frankreich einfallen, widmen sich einige so typisch französische Franzosen wie André Gide der Lektüre Goethes. Als er 1930 in den Kongo reist, wo er den Kolonialismus einer scharfen Kritik unterziehen wird, besteht seine Lektüre übrigens im wesentlichen aus den Wahlverwandschaften, den Gesprächen mit Eckermann, Faust, Goethes Erinnerungen, zahlreichen Gedichten und Gedichtbänden wie dem Westöstlichen Diwan, den Römischen Elegien, Hermann und Dorothea usw. Goethe gehörte zu Gides stets wiedergelesenen und bevorzugten Autoren, auch wenn man durchaus die Ansicht vertreten kann, dass er stilistisch und ästhetisch - ich denke hier beispielsweise an die Falschmünzer - versucht hat, einen Widerpart zu Goethe zu bilden und die Wahlverwandschaften auf seine Art neu zu schreiben.

Schliesslich muss auch an Charles Dubos erinnert werden, den heute etwas in Vergessenheit geratenen Literaturkritiker und Freud u.a. Gides und Claudels, der Goethe mehrere Artikel gewidmet hat, in denen er dessen Grösse, das Olympische, das ihm anhaftete, und den Klassizismus seines Kunstschaffens feiert. Das sind die bestimmenden Begriffe, die in Dubos' Schriften stets wiederkehren. Der junge Goethe interessiert ihn allerdings weniger als der Goethe der reifen Jahre, des letzten Lebensabschnitts. Gide und Charles Dubos haben übrigens zum 100. Todestag Goethes im Jahre 1932 in der Literaturzeitschrift Nouvelle Revue Française gemeinsam eine Hommage an Goethe mit dem Titel Goethe und Frankreich verfasst.

Forum: Kommen wir zurück in unsere Zeit! Goethe wird oft als "Denkmal", als eine Art "Überfigur" bezeichnet. Ist er im Laufe der deutschen Geschichte nicht zu einer Art Mythos geworden? Haben in dieser Hinsicht die im ostdeutschen Weimar stattfindenden zahlreichen Kulturveranstaltungen aus Anlass des 250. Geburtstags nicht das Ziel verfolgt, das Bild einer um den einenden Kulturträger vereinten Nation zu befördern?

F .Claudon: Hinsichtlich der Goethe-Feiern in Weimar möchte ich vorausschicken, dass dies nicht die ersten sind. Man darf Thomas Manns Besuch in Weimar zu Zeiten der DDR nicht vergessen. Das ist ein etwas unangenehmes Kapitel, über das man sich in Frankreich ausserhalb des germanistischen Berufsstandes vielleicht nicht richtig im Klaren ist. Während der Existenz zweier deutscher Staaten wurde um das Vorrecht an der bedeutenden Ahnenschaft und den wichtigen Kulturgütern gerungen. Wagner, Goethe oder die romantische Malerei eines Caspar David Friedrich wurden in beiden deutschen Staaten festlich begangen. Bis 1989 war Weimar Teil der Deutschen Demokratischen Republik, was diese natürlich weidlich ausnutzte. Gleichwohl muss ich sagen, dass die damals existierende Stiftung Weimarer Klassik eine interessante Institution war, die eine wirkliche Ausstellungs- und Veröffentlichungspolitik betrieb und die sich um die Einrichtung von Sammlungen und die Organisation von Konferenzen bemühte. Diese Tatsache lässt sich nicht einfach so vom Tisch wischen. Was dort von Thomas Manns Besuch zu Beginn der Staatsgründung der DDR an bis zum Mauerfall für Goethe getan wurde, sollte nicht einfach als vernachlässigbar betrachtet werden.

Auch wenn jetzt die Bundesrepublik wieder in Besitz genommen hat, was sie stets als ihr natürliches Erbe und als ihre natürliche Fortsetzung betrachtet hat, habe ich trotzdem den Eindruck, dass die Weimarer Festveranstaltungen zu Ehren von Goethes Geburtstag ein bisschen zu akademisch geraten sind. Sie erscheinen mir allzu offiziell, um mich von der Lebendig-keit, dem sich fortsetzenden konkreten Einfluss Goethes im heutigen Deutschland überzeugen zu können. Ich denke nicht, dass Goethe für die Deutschen viel bedeutet. Er ist sicherlich eine bedeutende Persönlich-keit, vor allem aber eine bedeutende Persönlichkeit der Vergangenheit. Dem-gegenüber glaube ich, dass die Goethe-Veranstal-tungen in Frankreich aufrichtiger, spontaner und damit auch für die Zukunft fruchtbarer waren, weil sie nur die Spezialisten betrafen und weil sie einen deutlich geringeren Personenkreis angesprochen haben.

Forum: Sie haben auch Schiller erwähnt. Können Sie noch einmal auf Goethes Beziehungen zur Romantik zu sprechen kommen?

F. Claudon: Zwischen Goethe und den Romantikern, zumindest den deutschen Romantikern gab es keine grossen Übereinstimmungen. Jedenfalls ist das Drama in der Art von Faust oder Goetz von Berlichingen sicher keine Erfindung Goethes. Es ist vielmehr in England bzw. Spanien entstanden, wenn man Schlegels Theorie folgt und sich auf das spanische Theater des siglo d'oro bezieht. Ausserdem gelten die Werke Diderots zu Goethes Zeiten als dramatisches Vorbild. Dennoch ist es Goethe mit Egmont, Goetz von Berlichingen und Faust, Schiller mit Die Räuber gelungen, das ihnen eigene Drama zu einer Waffe gegen das französische Theater, d.h. gegen die französische Tragödie umzuschmieden. So gesehen haben Goethe und Schiller einen wichtigen, zentralen, wesentlichen, unauslöschlichen Beitrag zur Romantik geleistet. Was sich beispielsweise in Frankreich um die Herausbildung des romantischen Dramas abspielte, lässt sich auf die französischen Übersetzungen Goethes und Schillers zurückführen und auf die Auseinandersetzungen, die dadurch - besonders auch durch Madame de Staël mit Über Deutschland - angeregt wurden.

Es muss dabei allerdings auch an Goethes Einfluss auf den Roman erinnert werden. Der Roman der Romantik wäre ohne Goethe sicherlich nicht das, was er ist. Wilhelm Meister ist der Inbegriff des Bildungsromans, der offensichtlich ein Modell darstellte, dem die französischen Romanschriftsteller stillschweigend folgten, vielleicht ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst gewesen wären. Rot und Schwarz von Stendhal ist ein Bildungsroman, Flauberts Lehrjahre des Gefühls ist ein Bildungsroman, Jean-Christophe von Romain Rolland ist ebenfalls ein Bildungsroman, genauso wie Gides bereits zitierte Falschmünzer. Goethes Beitrag zum Roman ist somit unübersehbar. Er setzt bei dem romantischen Roman an. Balzacs Verlorene Illusionen ist nichts anderes als ein Bildungsroman. Aus all dem wird deutlich, wie stark Goethe auf die romantische Bewegung gewirkt hat. Ich würde allerdings behaupten, dass dieser Einfluss auf die europäische Romantik in ihrer Gesamtheit spürbarer war als auf die romantische Bewegung in Deutschland. Zum Beispiel scheint mir kein wirklicher Bezug zwischen Hoffmanns Erzählungen und Goethe zu bestehen oder auch zwischen Goethe und Heinrich von Ofterdingen von Novalis, obwohl das doch auch ein Bildungsroman ist.

Goethes Einfluss auf die Romantik ist somit also merkwürdigerweise hinsichtlich der europäischen und besonders der französischen Romantik stärker als in bezug auf die deutsche Romantik. Daneben sollte aber sein Einfluss auf die Lyrik, auch wenn das ein ausgesprochen komplexes Problem darstellt, gleichfalls nicht unterschätzt werden. Der Vers wurde mit Goethe geschmeidiger, plastischer, abwechslungsreicher in seiner Tonlage. Seine thematische Vielfalt und seine grossen Liebesdichtungen haben die deutschen Dichter der Romantik sicherlich stark beeinflusst. Gleiches lässt sich allerdings für die Mehrheit der französischen Romantiker nicht behaupten, die von diesen Gedichten erst sehr viel später, nach ihrer Übersetzung, Kenntnis nahmen. Ich glaube, dass diese Gedichte vor der Anthologie von Gérard de Nerval in den Jahren 1830 nicht übersetzt worden waren. Die gerade erwähnten Charakteristika des Goetheschen Werks - der grosse Liebesdichter - haben die deutschen Dichter der Romantik zwar durchaus interessiert, aber vor allem wohl die Dichter der zweiten Generation, d.h. weniger jene, die wie Novalis um die Jahrhundertwende starben, als Dichter wie Brentano, Arnim, Eichendorff, Uhland und vor allem Heine, der zwar oftmals zu den Romantiker gerechnet wird, der aber genauso gut als Gegenromanti-ker gelten kann. Heine ist ein Sonderfall. Mit seiner Lorelei hat er allerdings der Sache der Romantik einen un-schätzbaren Dienst erwiesen. In den Augen eines gewöhnlichen Franzosen ist, was die Lyrik betrifft, die deutsche Romantik gleichbedeutend mit Heine.

Forum: Goethe wurde doch aber auch von der Suche nach dem Universellen beeinflusst, wie sie für die Frühromantik prägend war …

F. Claudon: Wenn Goethe und die Frühromantiker - wie Schlegel, Novalis u.a. - etwas eint, so ist es in der Tat eine gewisse Vorliebe, ja Manie für das Szientifische und Klassifizierende. Es ist die Zeit der sich ausbildenden Naturwissenschaften. Goethe war genauso wie Schlegel und Novalis sehr an den Naturwissenschaften interessiert, an Botanik ebenso wie an Mineralogie oder Zoologie. In dieser Zeit beginnt man in den Naturwissenschaften - um ein Beispiel auszuwählen, das für meinen Berufsstand, den der Komparatisten interessant ist - mit einem vergleichenden Ansatz zu arbeiten: es gibt eine vergleichende Anatomie, eine vergleichende Botanik, eine vergleichende Philologie usw. Kenntnisse wie Sprache oder Künste wurden nicht länger als isolierte Produktionen betrachtet, als eine Form erratischer, voneinander getrennter Blöcke, sondern vielmehr als ein sich baumförmig gruppierendes Ganzes, dessen Stamm vom Wissenschaftler lediglich rekonstruiert werden müsse. Goethe fühlte sich von dieser Art Denken, das sowohl ein wissenschaftliches als auch ein frühromantisches Denken war, stark angezogen. Dieser Ansatz ist für mich als Professor für Vergleichende Literaturwissen-schaft von ganz besonderem Interesse, weil damit ein Konzept in Mode kam, auf das wir oft zurückgreifen, nämlich das Prinzip der Weltliteratur. Goethe denkt, nicht anders als es in den Theorien der romantischen Theoretiker wie den Gebrüdern Schlegel in den Jahren 1800 bis 1806 zum Ausdruck kommt, dass es keine französische Literatur hier und dort eine italienische gebe. Beide seien vielmehr Zweige ein und desselben Baumes, dessen Stamm Weltliteratur heisse.

Forum: Lässt sich darin nicht ein Anliegen Goethes entdecken, der das "Ganze" gegenüber den "Teilen" und vor allem gegenüber dem "Fragmentarischen" bevorzugte?

F. Claudon: Ja. Lassen Sie mich diesbezüglich noch kurz auf eine Überlegung Goethes zu sprechen kommen hinsichtlich der reinen Elemente. In den Wahlverwandschaften versucht Goethe zu bestimmen, was die reine Liebe sei, d.h. die Liebe aus Neigung, so wie beispielsweise Eisen vom Magnet angezogen wird. Ähnliches gilt auch in bezug auf die Literatur. Mindestens zweimal hat Goethe versucht, reine Gattungsbeispiele - eine Novelle, ein Märchen - zu schreiben, die weder mit einer einzigen Figur noch mit einem Ereignis zu tun haben. Als Goethe eine Novelle oder ein Märchen schreibt, liegt er mit den Romantikern absolut auf einer Wellenlänge, die zur selben Zeit gerade zu bestimmen versuchen, was Literatur ursprünglich, ihrem Wesen nach sei. Das ist eine hoch interessante und noch heute aktuelle Fragestellung, versuchen doch auch die Linguistik und die strukturale Erzählforschung herauszuarbeiten, was einen Text eigentlich zu einem literarischen Text macht, was die Literarizität, wie Jakobson sagen würde, ausmacht. Mit eine Novelle, ein Märchen hat Goethe also gewissermassen experimental im Labor versucht, Literarizität zu schaffen.

Forum: Welchen Stellenwert hat Goethe den Begriffen des Kosmopolitischen und der europäischen Kultur beigemessen? Lässt sich bezüglich dieser Begriffe von einer Aktualität des Denkens Goethes sprechen oder würde dies nur zu Fehlinterpretationen Anlass geben?

F. Claudon: Das ist eine interessante Frage! Der Begriff des Kosmopolitischen stand zur Zeit Goethes bei den Denkern hoch im Kurs. Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang auf ein Detail zurückkommen. Ich hatte ja bereits daran erinnert, dass Goethe von Napoleon mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet worden war. Als dieser in den Jahren 1813 und 1814 Deutschland verloren geben musste, hat sich die gesamte romantische Jugend unter dem Banner des Königs von Preussen bzw. des österreichischen Kaisers versammelt, um die Franzosen aus Deutschland zu vertreiben. Sie war der Ansicht, dass diese im Grunde ein Hindernis zur Entfaltung der deutschen Kultur bildeten und Deutschland nur daran hinderten, sich dem romantischen Lebensgefühl hinzugeben. Die Freiheitskriege hatten alle deutschen Denker - nach dem Vorbild von Karl Marie von Weber - mit Begeisterung erfüllt. Genau in diese Zeit fällt auch der tiefe Bruch zwischen Goethe und seiner Zeit. Goethe gilt zu diesem Zeitpunkt als ein Mann einer vergangenen Zeitrechnung, der die geschichtliche Entwicklung nicht begriffen habe und seine Landsmänner deutscher Sprache verrate, weil er sich als Europäer betrachte, als ein Bürger Europas oder, wie es damals hiess, als ein "Kosmopolit". Das war nämlich die eigentliche Bedeutung, die man dem Wort "Kosmopolit" gegeben hatte. In einer gar nicht so weit zurückliegenden Epoche kam das Wort "Kosmopolit" in den marxistischen Regimen einer Kritik gleich, einer Verurteilung. Ein kosmopolitischer Geist war als Negativbild jemand, der die nationalen Interessen seines Landes und seines Regimes verriet.

1813 beharrt Goethe auch weiterhin auf einer Haltung, auf Ansichten, Vorstellungen und Verhaltensweisen eines Kosmopoliten. Kosmopolit ist, wer Fremdsprachen spricht, alle Länder liebt, wer zum Beispiel der Ansicht ist, dass die beste Architektur in Italien, das beste Theater aber in Frankreich zu sehen sei, dass wiederum die schönste Dichtung vielleicht, ganz gewiss aber die schönste Musik aus Deutschland komme. Darin besteht das Kosmopolitische. In der geistigen Öffnung nämlich und der Weigerung zu behaupten, dass eine Zivilisation der anderen überlegen ist. Gleichwohl wird dieses Urteil - zumindest damals - insgeheim abgeschwächt: Die beste Zivilisation sei immer noch die europäische, und ich persönlich bin nicht sicher, ob sich daran viel geändert hat. Ich glaube, dass die europäische Zivilisation in seiner kosmopolitischen Gestalt noch eine Zukunft hat!

In Goethes Zeit war man Europäer oder gar nichts. Genau darin bestand Goethes, für seine Zeitgenossen so unverständliche Haltung. Es bedeutet das alte Europa in der Fortsetzung Roms und Griechenlands. Das ist ein ganz zentraler Punkt: Das Europa der Moderne steht mit seiner von ihm vermittelten Botschaft von Humanismus, Schönheit und Toleranz usw. in direkter Nachfolge der griechischen Antike.

In der Folgezeit hat das wilhelminische Deutschland und auch das Deutschland der Nazizeit grossen deutschen Künstlern wie Wagner ihre Ehrung erwiesen, der sich eben auch als grosser europäischer Künstler, als eine Figur Europas und der Welt betrachtete. Heutzutage versteht man den Begriff des Kosmopolitischen anders, als ihn Goethe verstanden hatte. Ich habe den Eindruck, dass man diesen Sinn durchaus entstellt, weil sich Goethe doch allein auf das Kulturelle bezog. Goethe war, denke ich, unpolitisch, ganz und gar unpolitisch. n

Eigene Übersetzung des Forum


Veröffentlichungen

- "La Guirlande de Chopin" - ouvrage en collaboration franco-polonaise - à paraître.
- "Vivant Denon" (texte receuillis par B. Bailly et F. Claudon) - UTB, Chalon - 1998.
- "Paul Casin - 1881-1963" (textes recueillis par A. Nawrocki et F. Claudon) - 1998.
- "Ils n’ont jamais été représentés à l’Opéra" (textes recueillis par F. Claudon et J.C. Yon) - Die, Couleurs locales - 1998.
- "Les littératures de langue allemande depuis 1945" - E. Tunner, F. Claudon - Nathan Université, coll. fac. littératures étrangères - 1995.
- "Le voyage romantique - Des itinéraires pour aujourd’hui" - Editions Philippe Lebaud - 1986.



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