Deutsch-Französisches
Forum: Goethe hat in dem Geistes-leben seiner Zeit eine ganz besondere
Rolle gespielt. Lassen sich die Gedankenströmungen, die Autoren,
die Denker, Musiker und politischen Persönlichkeiten, die ihn
beeinflusst haben, näher bestimmen?
Francis Claudon:
Wir haben 1999 Goethes 250. Geburtstag feierlich begangen: Goethe
wurde im Jahre 1749 in Frankfurt geboren. Vielleicht sollte deshalb
vorab daran erinnert werden, dass sich Deutschland zu jener Zeit
grundlegend von dem heutigen Deutschland, aber auch von dem Deutschland
im 19. Jahrhundert unterscheidet. Deutschland ist damals zerstückelt,
bildet einen Flickenteppich von Kleinstaaten, unter denen es keine
Grossmacht gibt, oder, um es genauer zu sagen, das Heilige Römische
Reich Deutscher Nation steht - zumindest theoretisch - unter der
Führung des Hauses Habsburg, das seit Jahrhunderten den Reichskaiser
stellt. Den Habsburgern steht im Norden - eigentlich müsste
ich im Nordosten sagen - das Haus Brandenburg gegenüber, d.h.
Preussen.
Seit dem 30jährigen
Krieg, d.h. seit Mai 1618 dient Deutschland den europäischen
Mächten lange, eigentlich bis zum Sturz Napoleons, als Kriegsschauplatz.
Dies war in der Stadt Frankfurt, einer freien Reichsstadt mit starkem
Bürgertum, einer mächtigen jüdischen Bank usw., ganz
besonders spürbar. So wurde die Stadt beispielsweise von französischen
Truppen besetzt. Dieses besondere Klima der Stadt, in der Goethe
geboren wurde und in der er seine Jugendjahre verbrachte, ist uns
aus Goethes eigenen Bekenntnissen aus seinem Erinnerungsbuch Dichtung
und Wahrheit wohl bekannt. Zwei Erinnerungen sind in Goethes Kindheit
von besonderer Bedeutung: die erste betrifft einen französischen
Offizier, den die Eltern Goethes - sein Vater, ein Bewunderer Preussens,
war Jurist - im Jahre 1764 in ihrem schönen, heute im Hirschgraben
wieder errichteten Haus einquartiert hatten und der alle Vorzüge
und Schwächen eines Höflings, Parisers und Mitglieds der
guten französischen Gesellschaft aufwies: Frivolität,
Koketterie, Höflichkeit, Bildung und die Liebe zum Theater.
Es ist durchaus wahrscheinlich, dass dieser Offizier für einen
gewissen Pariser Flair und Schick und zudem für die Verbreitung
des Erfolges der Enzyklopädisten sorgte, die zu eben dieser
Zeit in aller Munde waren.
Forum: Sie
sprechen von dem Comte de Thoranc
F. Claudon:
Genau. Die zweite wichtige geistige Anregung, die sich im übrigen
aus dem genannten Einfluss ergibt, besteht darin, dass Goethe frühzeitig
seine Neigung zum Theater entdeckt. Er kommt zum Theater durch ein
kleines Puppenspiel, das er besass und mit dem er zur grossen Freude
seiner Eltern zusammen mit seiner Schwester spielte. Das Theater
wird dann später zu einem steten und zentralen Bezugspunkt
in Goethes Werk werden; und das nicht nur, weil er selbst zahlreiche
Stücke schreiben sollte, sondern auch weil einer seiner schönsten
Romane, Wilhelm Meister, um die Bestimmung zum Theater und den Theaterberuf
kreist. Um auf Goethes Kindheit zurückzukommen, so konnten
mit dem Puppentheater natürlich Sagen wie beispielsweise die
damals in Mitteleuropa weitverbreitete Faustsage aufgeführt
werden, daneben aber auch Stücke, die gerade Mode waren und
die dann parodiert und nachinszeniert wurden - ganz so wie jetzt
die Verfilmungen grosser literarischer Erfolge für das Fernsehen.
Es kann gar nicht oft genug betont werden, dass zu der damaligen
Zeit die erfolgreichsten Theaterstücke aus Paris kamen: die
Komödien und vor allem auch die nachklassischen Tragödien
im Stil Racines, wie z.B. die Stücke Crébillons und
Voltaires, und auch wie sehr Europa im 18. Jahrhundert ein - um
es mit den Worten von Louis Réaux zu sagen - "französisches
Europa der Aufklärung, ein französisches Europa im Zeitalter
der Aufklärung" gewesen ist. Die Kenntnis der französischen
Sprache, Sitten und Kultur ist für jedermann das Mass zur Bestimmung
seines guten Geschmacks, seiner Bildung und seiner Gewandtheit,
selbst wenn man sich dem, wie es teilweise auch für Goethe
gilt, später widersetzte.
Wenn wir nun
auf ein zweite Reihe von späteren Einflüssen zu sprechen
kommen, so handelt es sich um Goethes Lektüre, denn wir haben
es hier mit einem intelligenten und gebildeten jungen Mann zu tun.
Sein Vater möchte, dass er - wie er selbst - eine juristische
Laufbahn einschlägt. Was daraus geworden ist, ist ja hinreichend
bekannt! Allerdings hat Goethe durchaus ernsthaft rechtswissenschaftliche
Studien betrieben. Nebenher liest er aber zeitgenössische deutsche
Autoren. Einen dieser Autoren, für den auch die Goethe-Literatur
lobende Worte findet, hat Goethe besonders geschätzt: den Dichter
Klopstock, Verfasser des Messias, eines überaus gefühlvollen
christlichen Epos, wie sie zu dieser Zeit so zahlreich waren. Neben
Klopstocks Werk müssen aber noch andere Werke - wie z.B. Miltons
Lost Paradise - Erwähnung finden, die zwar durchaus religiöser
Inspiration sind, in denen das Religiöse allerdings vor allem
Gelegenheit zur Beschreibung der Gefühlsstimmungen und des
Seelenlebens bietet. Was ich hier betonen möchte, ist, dass
Goethe sich durch den Einfluss seiner Zeit, durch seine persönlichen
Neigungen und seine Lektüre von Anfang an in einer Übergangs-
und Mittlerlage befindet. Er tritt das Erbe dessen an, was ihm unmittelbar
vorangeht, und prägt das, was unmittelbar auf ihn folgen sollte.
Ich glaube, dass diese besondere Funktion im Grunde Goethes wesentliche
Eigenschaft darstellt.
Schliesslich
macht sich bei Goethe etwa zur selben Zeit eine dritte Einflussquelle
geltend, als er nämlich nach Leipzig fährt, um dort seine
Rechtsstudien fortzusetzen. Leipzig ist eine alte Bürgerstadt,
verfügt allerdings nicht über einen Hof. Sie steht in
einer Handelstradition, was ihr ein stark kosmopolitisch gefärbtes
Gepräge verleiht. Man nennt die Stadt auch le petit Paris,
weil dort ein Kreis von Dichtern wie Hagedorn, Gellert, Gottsched
usw. anzutreffen ist, der französischen Gelegenheitsdichtungen
nacheifert. Ich benutze diesen Terminus hier durchaus absichtsvoll
zur Kennzeichnung unbedeutender Versdichtungen und Gattungen, die
zumeist von Hofdichtern verfasst werden. Goethe steht zwar in Kontakt
zu dieser Mode, aber selbst wenn er einige Gedichte in dieser Geschmacks-richtung
verfertigt, begreift er bald, dass es nicht das ist, was er für
sich anstrebt. Genau zu diesem Zeitpunkt verlangt sein Vater seine
sofortige Rückkehr nach Frankfurt, um ihn sodann an die Universität
nach Strassburg zu schicken. Dieser Abschnitt seines Lebens wird
für ihn äusserst wichtig sein. Strassburg ist ja bekanntlich
eine französische Stadt. Ich begehe diesen Fehler natürlich
mit Absicht, da Strassburg zwar keine deutsche Stadt ist, als deutsch
geprägte Stadt aber seit dem 30jährigen Krieg, seit dem
Westfälischen Frieden von 1648 in den politischen und militärischen
Einflussbereich des französischen Königreichs fällt.
Unter Ludwig XIV. wurde Strassburg schliesslich dem französischen
Königreich einverleibt. Das erklärt, warum der Stadt auch
ein französischer Gouverneur vorsteht und warum es dort französische
Offiziere, ein französisches Theater usw. gibt. Trotzdem ist
Strassburg eher eine von zwei Kulturen geprägte Stadt, in der
die Mehrheit der Bürger, das intellektuelle, kulturelle und
gesellschaftliche Leben grösstenteils der deutschen Kultur
angehören.
An der Universität
Strassburg studiert Goethe natürlich Jura, aber er wird dort
auch in zweifacher Hinsicht beeinflusst. Zum einen von dem Universitätslehrer
Herder, einem Denker mit ausgesprochen vielseitigem und bewegtem
beruflichen Lebensweg, der ihn beispielsweise hoch oben in den Nordosten
Europas nach Riga und über Strassburg zum Abschluss seines
Lebens im selben Moment wie Goethe nach Weimar führt. Herder
hat sich als Philologe, Anthropologe und Ethnologe um die Volkskultur
verdient gemacht. Ebenso wie später die Gebrüder Grimm
sammelt er alle Spuren jenes versunkenen Deutschlands, jener germanischen
Lebensform, die zumindest gemessen an den damaligen Normen nicht
an Eleganz, Kultiviertheit, Attraktivität und Universalität
der französischen
Kultur herangereicht hatte. Durch Herder werden dem jungen Goethe
die Reichtümer des deutschen Kulturerbes nähergebracht.
Eine weitere Inspirationsquelle hat, auch wenn sie nicht von menschlicher
Gestalt ist, gleichwohl mit Herder und dem deutschen Kulturerbe
zu tun: es handelt sich um den Strassburger Dom. Diese prachtvolle
gotische Kathedrale erhebt sich umringt von Gebäuden im reinsten
Baustil des 18. Jahrhunderts, wie z.B. dem Palais Rohan, dem Amtssitz
des Gouverneurs, der Präfektur, dem Theater usw. Ihr Anblick
hinterlässt bei Goethe einen tiefen Eindruck. Angesichts der
Schönheit des rosa Sandsteindomes ist er tief ergriffen. Diese
Ergriffenheit verstärkt noch die Wirkung von Herders Worten
hinsichtlich der Würde der altdeutschen Kultur. Ich glaube,
dass Goethe genau in diesem Augenblick begreift, dass, wenn er etwas
zu sagen hat, er sein Talent in dieser Richtung entfalten sollte.
Dies tritt in aller Deutlichkeit in den Liebesgedichten zutage,
die er für die junge Elsässerin Frédérique
Brion, die Tochter des Dorfpastors von Sesenheim 60 Kilometer nördlich
von Strassburg, geschrieben hat. Eines der berühmtesten Gedichte,
das in dieser Zeit, durch die Liebe zu Frédérique
und durch die Wiederentdeckung des Volkstümlichen angeregt
wurde, ist das Heidenröslein. Dieses Gedicht ist derart vollkommen,
dass man es gemeinhin für ein anonymes Volkslied hält.
Dabei handelt es sich um eine von Goethe verfasste volksliedhafte
Nachahmung, ähnlich wie der schottische Volksschullehrer Macpherson
Gedichte des Ossian nach- und umgedichtet hat.
An dieser Stelle
muss allerdings auch der Einfluss der englischen Literatur erwähnt
werden. Als Goethe sich mit der Pastorentochter Brion in einer Liebesidylle
ergeht, glaubt er eine Geschichte nachzuleben, wie er sie bereits
in Goldsmiths Landprediger von Wakefield gelesen hatte. Dazu muss
vorausgeschickt werden, dass England zu diesem Zeitpunkt als das
Mutterland des Romans galt, u.a. mit dem empfindsamen Roman eines
Richardson und eines Goldsmith, dessen Landprediger Goethe so stark
berührt hatte.
Sein Aufenthalt
in Strassburg, die Entdeckung des versunkenen Deutschlands und der
altdeutschen Kultur haben ihn somit also in seinem Entschluss bestärkt,
Schriftsteller zu werden und das Herdersche uvre fortzusetzen.
Goethe liefert dann eine erste Produktion bedeutender Werke, die
sogleich als Meisterwerke gelten: Werther, Prometheus, Goetz von
Berlichingen, aufgrund deren an Goethe die ausserordentliche Einladung
des Herzogs von Weimar ergeht, der ihn 1775 zu sich nach Weimar
kommen lässt.
Goethes Weimarer
Zeit entspricht dann einer anderen Periode seines Geisteslebens.
Es handelt sich deswegen um eine grundsätzlich andere Periode,
weil er hier eine Art geistige Erhebung erfährt. Durch seine
Lektüre wird er zuallererst von den Klassikern im traditionellen
Wortsinn, d.h. von der lateinischen und griechischen Literatur,
tief geprägt. Sodann wird er in seinen bereits bestehenden
philosophischen Neigungen von Schiller, der sich in Weimar niederlässt
und mit dem er Freundschaft schliesst, bekräftigt. Durch ihn
lernt er beispielsweise die auf Kants Philosophie gründenden
Theorien des Erhabenen kennen: ein ausserordentlich wichtiger Einfluss.
In seiner Weimarer
Zeit, die etwa bis 1805-1806 andauert, haben die Ereignisse in Frankreich,
die französische Revolution und die Revolutionstheorien, eine
nicht minder starke Wirkung auf Goethe. Goethe hatte der Schlacht
von Valmy beigewohnt, was ihn übrigens dazu veranlasst hat,
eines seiner Werke Campagne in Frankreich zu betiteln. Er schrieb
bei dieser Gelegenheit den gern zitierten Satz, dass er dabei gewesen
sei, als "eine neue Epoche der Weltgeschichte" begonnen habe. Diese
neue Epoche ist die Epoche der Ideologie, die Epoche der Schriftsteller
wie Chateaubriand, aber auch die Epoche der ersten Theoretiker der
Romantik, z.B. der Gebrüder Schlegel. Diese haben übrigens,
was äusserst bedeutsam ist, Goethe, der ja in Deutschland zumindest
in der literarischen Welt eine Berühmtheit darstellte, um Unterstützung
gebeten. Interessanterweise ist er diesem Ansinnen der jungen Generation
nach Protektion allerdings nicht nachgekommen. Die Erklärung
für diese Ablehnung führt uns wieder in das Jahr 1806
zurück. Von diesem Zeitpunkt an ist er nämlich voller
Bewunderung für Napoleon, dem Preussen in der denkwürdigen
Schlacht bei Jena 1806 unterlegen war. In diesem Zusammenhang ist
nicht hinreichend bekannt, dass aus eben diesem Anlass auch eine
Gruppe von Franzosen bei Goethe vorstellig wurde, darunter Vivant
Denon, der die Beschlagnahmungen durchführen sollte und dem
im übrigen 1999 im Louvre eine Ausstellung gewidmet wurde.
Dieser wendet sich also an Goethe und bittet ihn bezüglich
der Sammlung des Herzogs von Weimar Zurückhaltung an den Tag
zu legen, was dann auch geschieht. Im Gefolge Denons ist übrigens
auch ein gewisser Henri Beyle, der erst später unter dem Namen
Stendhal bekannt werden sollte. So ist Deutschland also im Anschluss
an die völlig überraschende Auslöschung des Königreichs
Preussen wieder einmal unter französische Herrschaft, französischen
Einfluss und napoleonischen Geist geraten. Bekanntlich hat Napoleon
Goethe ja einige Jahre später den Orden der Ehrenlegion verliehen,
eine Auszeichnung, die dieser stets mit grosser Genugtuung trug
und selbst nach Napoleons Sturz noch behält.
Eben dieser
Einfluss, der sich wohl als "Ideologie" bezeichnen liesse, erklärt
ein derartiges, anhaltendes Missverständnis, das schliesslich
zu der berühmten, ihm stets zum Vorwurf gemachten Formel führt,
die er, wenn ich mich recht erinnere, in einem Gespräch mit
Eckermann gefunden hat: "Das Klassische nenne ich gesund, und das
Romantische krank". Das sagt alles. Goethe ist der berühmteste
Denker und Schriftsteller Deutschlands, aber der Romantik gegenüber
verhält er sich ablehnend und weist ihren Einfluss zurück.
Ich denke, dass an dieser Stelle die Liste der geistigen Einflussfaktoren
auf Goethe endet, weil uns nunmehr aufgrund seiner herausragenden
und Beispiel gebenden Stellung eher die Kehrseite der Geschichte
beschäftigen sollte, ich will sagen: der Einfluss, den Goethe
auf das Europa des Geistes und auch auf die Franzosen ausgeübt
hat.
Forum: Mit
seinem breiten und umfassenden Werk ist Goethe zu einer zeitlosen
Kulturfigur geworden. Welche deutschen oder europäischen Autoren
und Künstler hat er seinerseits beeinflusst? Könnten Sie
dabei vielleicht besonders auf die Rezeption seines Werks durch
französische Schriftsteller und Denker eingehen?
F. Claudon:
Genauso wie Goethe in manchen Bereichen, bei der Herausbildung seines
Denkens und seines literarischen Genies beeinflusst worden ist,
ging umgekehrt auch von ihm eine unbestreitbare Wirkung aus, die
sich in zweierlei Hinsicht bestimmen lässt. Ich würde
sagen, dass er auf die einen durch seine Werke, auf andere wiederum
durch seine Person gewirkt hat.
In Frankreich
gibt es diesbezüglich zwei berühmte Fälle. Am berühmtesten
ist fraglos der Besuch von Madame de Staël. Auf der Flucht
vor Napoleon und seinen Zurechtweisungen kommt sie nämlich
1807 nach Deutschland. Dazu erzähle ich immer gerne eine kleine
Anekdote, die mit dem Vorwort dieses für die Geschichte der
deutsch-französischen Beziehungen, für die Geschichte
der Romantik und auch Europas zentralen Buches De l'Allemagne zu
tun hat. Als sie dieses Buch im Jahre 1810 veröffentlichen
möchte, tritt die Zensur in Gestalt des Polizeiministers Savary,
des Herzogs von Rovico, auf den Plan, welcher ihr schriftlich -
in etwa - folgende Worte mitteilt, die in dem Vorwort zu diesem
Buch wieder abgedruckt sind: "Madame, ich persönlich habe die
Veröffentlichung ihres Werkes untersagt. Dieses Buch ist ganz
und gar nicht französisch, und wir sind noch nicht so weit
gesunken, dass wir bei Völkern, die wir besiegt haben, nach
Vorbildern zu suchen hätten."
Was liest man
denn in Über Deutschland? Man stösst dort zum Beispiel
auf eine lange, ausführliche und eloquente Darstellung der
Gespräche, die Madame de Staël mit Goethe, den sie in
Weimar besuchte, geführt hat. Sie analysiert sehr genau die
Stärken von Goethes Genie, die alsbald die Richtung vorgeben
und die Spuren bilden werden, in denen Goethe wirken wird: Werther,
Die Wahlverwandschaft und Wilhelm Meister in bezug auf den Roman,
Faust oder Goetz von Berlichingen hinsichtlich des Theaters und
bei der Dichtung schliesslich im wesentlichen die Gedichte nach
1810.
An dieser Stelle
möchte ich an einen anderen Franzosen erinnern, der sich mit
Goethe gewissermassen auf Distanz gemessen hat. Es handelt sich
um Chateaubriand. Dazu ist aber ein kleiner literarhistorischer
Rückblick vonnöten. 1761 veröffentlicht Jean-Jacques
Rousseau Die neue Heloise, die ein grosser Erfolg ist und überall,
bei den Engländern, aber auch bei Goethe im Werther auf Nachahmer
stösst. Goethe hat Werther ausdrücklich als eine Antwort
sowohl auf Die neue Heloise als auch auf den bereits zitierten Landprediger
von Wakefield bezeichnet. Goethes Werther ist ein Triumph. Nach
seiner Übersetzung ins Französische antwortet darauf ein
junger Mann namens François-René de Chateaubriand
mit seinem Buch René. Zwischen Goethe und Chateaubriand herrscht
genauso eine Rivalität wie zwischen Chateaubriand und Byron,
dem Autor von Childe Harold. Der gemeinsame Nenner zwischen Goethes
Werther, Chateaubriands René und Byrons Ritter Harold lässt
sich leicht erraten: Sie sind alle drei Ausdruck des Leidens an
diesem Jahrhundert.
Ich möchte
hier einige Sätze aus Chateaubriand anführen: "Thema dieses
Buches ist die völlig neuartige und unglücklicherweise
allzu weit gehende Sittlichkeit. Es wendet sich an die so zahlreichen
Opfer des Beispiels des jungen Werther und Rousseaus, die das Glück
anderswo als in den natürlichen Gefühlsregungen des Herzens
und den üblichen Bahnen der Gesellschaft gesucht haben." So
heisst es im Jahre 1802 in bezug auf René, der damit also
ausdrücklich als eine französische und christliche Entgegnung
auf den deutschen Selbstmörder Werther präsentiert wird.
Es sei daran erinnert, was Chateaubriand in seinen Jahre später
verfassten Erinnerungen von jenseits des Grabes über Goethe
schreibt: er nennt ihn den Dichter des Körperhaften im Gegensatz
zum Geistigen, den pantheistischen Dichter im Gegensatz zum christlichen
Dichter etc. In dem Versuch, die Trilogie Goethe-Chateaubriand-Byron
und Werther-René-Childe Harold einzuordnen, heisst es ausserdem:
"Lord Byron lebte weiter, obwohl er als Kind seiner Zeit - wie ich
und wie Goethe vor uns - das Leid und das Unglück ausgedrückte"
und weiter: "[
] ich will vorausschicken, dass Ossian, Werther,
die Träumereien des einsamen Spaziergängers und Bernardin
de Saint Pierres Naturstudien in meiner frühen Jugend meiner
Gedankenwelt nicht unähnlich waren."
Eine weitere
Wirkungsgeschichte, an die erinnert werden muss, betrifft einen
ganz anderen Bereich, nämlich die Beziehungen zwischen Goethe
und Beethoven. Der weltberühmte Komponist war voller Bewunderung
für Goethe. Romain Rolland hat deren Verhältnis untersucht
und erinnert in Goethe und Beethoven, einem von zahlreichen Bänden,
daran, dass der in den Jahren 1814 bis 1820 von den Gedichten Goethes
begeisterte Beethoven gerne mit ihm zusammen gearbeitet und einige
seiner Texte vertont oder auch zusammen mit ihm eine Oper komponiert
hätte. So hat er ihn beispielsweise in Teplitz in Böhmen
aufgesucht. Goethe allerdings war von diesem ihm so ungleichen Mann,
der ihn zu ausgedehnten Spaziergängen drängte, zutiefst
befremdet, während Goethe im Grunde ein Höfling war, ein
wohlerzogener Mann, der mit dem Adel verkehrte und sich auf der
Strasse in einem Grusszeremoniell erging, wenn er den Grossherzog
oder den österreichischen Kaiser zu Gesicht bekam. Beethoven
spazierte hingegen mit seinem Hut auf dem Kopf vor sich hin und
nahm ihn auch zur Begrüssung von Aristokraten nicht ab. Er
wollte Goethe unbedingt im Gespräch vereinnahmen und von ihm
wissen, was die Welt wohl denken würde, wenn sie zusammenarbeiten
würden. In bezug auf Beethoven lässt sich von einem negativen
Einfluss Goethes oder genauer gesagt von einer Enttäuschung
sprechen, welche durchaus mit der Enttäuschung der Romantiker
gleichzusetzten ist, darüber, dass Goethe sie auf Distanz hielt.
Vergessen wir
dabei auch nicht Goethes Einfluss auf Schubert, der ja im übrigen
sehr viele seiner Texte vertont hat. Schubert ist Goethe zwar niemals
persönlich begegnet, hat ihm aber einige seiner Werke zugesandt,
auf die Goethe ihm allerdings nicht geantwortet hat. Dieser olympische
Zug Goethes nach 1810 ist eine seiner bis an sein Lebensende anhaltenden
Grundeigenschaften. Er hat sich in einer Art Elfenbeinturm eingeschlossen.
Er verhält sich im übrigen auch Heinrich Heine gegenüber
nicht anders, der Goethe äusserst gemischte Gefühle entgegenbrachte.
Zwischen Goethe und den deutschen Künstlern egal welcher Kunstform
und unabhängig davon, ob sie aus seiner Epoche oder der darauf
folgenden stammten, ist somit also keine Verbindung zustande gekommen,
hat sich kein Band geknüpft.
Wenn man mich
also fragt, mit welchen Denkern Goethe nolens volens den engsten
Kontakt unterhalten hat, so meine ich, dass es sich wohl um Franzosen
handeln dürfte. Das ganze 19. und - etwa bis zum Weltkrieg
- auch das 20. Jahrhundert über sind sowohl der Dichter als
auch sein Werk bekannt. So hat beispielsweise Fernand Baldensberger,
einer der Begründer der Fachdisziplin der Vergleichenden Literaturwissenschaft,
der auch ich angehöre, ein Buch mit dem Titel Goethe in Frankreich
geschrieben, in der er die Geschichte all derjenigen erzählt,
die sich auf Goethe bezogen haben. So ist also festzustellen, dass
trotz der Kriege, trotz diverser deutsch-französischer Auseinandersetzungen
Goethe auf die französischen Dichter und Denker stets eine
grosse Faszination ausgeübt hat, darunter auch auf Gérard
de Nerval, der 1840 zuerst Faust übersetzt - er ist natürlich
nicht der einzige -, dann aber auch viele Gedichte sowie andere
Dichter wie Uhland, Bürger, Schiller usw. Im Vorwort dazu spricht
er von Goethe in ähnlich lobenden Worten wie Madame de Staël,
unterstreicht in seiner Dichtung aber Aspekte wie das Volksliedhafte
und das Pantheistische, die Madame de Staël vielleicht nicht
in dieser Klarheit hervorgehoben hatte. Dabei stand das deutsch-französische
Verhältnis 1840 gar nicht zum Besten. Es ist die Zeit der Auseinandersetzung
um den Rhein, als ein Poet namens Becker sein Rheinlied verfasst,
auf das Alfred de Musset wie folgt reagiert: "Er passte in ein Glas,
wir haben ihn uns geholt, Euren deutschen Rhein." Es ist dabei durchaus
beachtenswert, dass Gérard de Nerval zu eben diesem Zeitpunkt
offen seine Bewunderung für Deutschland und Goethe kundtut,
in dem er ein notwendiges, ja unentbehrliches Bindeglied für
die Beziehungen sieht, die die beiden Nationen unterhalten sollen.
Es lassen sich
aber auch noch andere Beispiele anführen. Nach 1870 war man
der Ansicht, dass die Niederlage Frankreichs gegen Preussen in Sedan
zum Teil auf die Mängel im französischen Hochschulwesen
zurückzuführen sei. Deswegen wollte man eine französische
Hochschule nach deutschem Vorbild errichten. In diese Zeit fällt
dann auch die Einrichtung einiger bedeutender Lehrstühle für
deutsche Literatur und Sprache, z.B. mit den Lehrstuhlinhabern Lichtan
Berger oder Andler. Diese ehrwürdigen Germanis-ten, für
die Goethe auch weiterhin die Notwendigkeit versinnbildlichte, das
Band zwischen Deutschland und Frankreich aufrechtzuerhalten, gehörten
stets zu seinen grossen Bewunderern. Folglich dachten sie, dass
der deutsche Dichter für Frankreich und die Franzosen eine
Bereicherung bedeuten könne, dass er ihnen etwas mitzuteilen
habe.
Später
im 20. Jahrhundert widmet Proust Goethe in seinem Roman Die Entflohene
einige schöne Worte. Als Albertine sich dem Liebeswerben des
jungen Marcel hat entziehen können, tröstet sich dieser
mit der Lektüre der Wahlverwandschaften, einer schönen
Geschichte, die erzählt, wie sich unterschiedliche Charaktere
begegnen und auch wie sie sich zerstören, ganz so wie chemische
Substanzen, die ja auch explosive Mischungen produzieren.
Gide war ein
nicht minder grosser Bewunderer Goethes. Während er in dem
geschichtlich dramatischen Zeitraum vom Juni 1940 sein Tagebuch
führt, liest er parallel dazu Faust II und schreibt folgenden
Eintrag: "Welch Schönheit entdeckt man doch immer wieder darin.
Welch Reichtum. Alles ist dort von Leben förmlich durchdrungen.
Goethe nähert sich mit so grosser Natürlichkeit den Regionen
des Erhabenen, dass man sich mit ihm dort stets auf gleichem Fusse
fühlt." Das ist schon ziemlich erstaunlich: Gerade als die
Nazihorden und die Wehrmacht in Frankreich einfallen, widmen sich
einige so typisch französische Franzosen wie André Gide
der Lektüre Goethes. Als er 1930 in den Kongo reist, wo er
den Kolonialismus einer scharfen Kritik unterziehen wird, besteht
seine Lektüre übrigens im wesentlichen aus den Wahlverwandschaften,
den Gesprächen mit Eckermann, Faust, Goethes Erinnerungen,
zahlreichen Gedichten und Gedichtbänden wie dem Westöstlichen
Diwan, den Römischen Elegien, Hermann und Dorothea usw. Goethe
gehörte zu Gides stets wiedergelesenen und bevorzugten Autoren,
auch wenn man durchaus die Ansicht vertreten kann, dass er stilistisch
und ästhetisch - ich denke hier beispielsweise an die Falschmünzer
- versucht hat, einen Widerpart zu Goethe zu bilden und die Wahlverwandschaften
auf seine Art neu zu schreiben.
Schliesslich
muss auch an Charles Dubos erinnert werden, den heute etwas in Vergessenheit
geratenen Literaturkritiker und Freud u.a. Gides und Claudels, der
Goethe mehrere Artikel gewidmet hat, in denen er dessen Grösse,
das Olympische, das ihm anhaftete, und den Klassizismus seines Kunstschaffens
feiert. Das sind die bestimmenden Begriffe, die in Dubos' Schriften
stets wiederkehren. Der junge Goethe interessiert ihn allerdings
weniger als der Goethe der reifen Jahre, des letzten Lebensabschnitts.
Gide und Charles Dubos haben übrigens zum 100. Todestag Goethes
im Jahre 1932 in der Literaturzeitschrift Nouvelle Revue Française
gemeinsam eine Hommage an Goethe mit dem Titel Goethe und Frankreich
verfasst.
Forum: Kommen
wir zurück in unsere Zeit! Goethe wird oft als "Denkmal", als
eine Art "Überfigur" bezeichnet. Ist er im Laufe der deutschen
Geschichte nicht zu einer Art Mythos geworden? Haben in dieser Hinsicht
die im ostdeutschen Weimar stattfindenden zahlreichen Kulturveranstaltungen
aus Anlass des 250. Geburtstags nicht das Ziel verfolgt, das Bild
einer um den einenden Kulturträger vereinten Nation zu befördern?
F .Claudon:
Hinsichtlich der Goethe-Feiern in Weimar möchte ich vorausschicken,
dass dies nicht die ersten sind. Man darf Thomas Manns Besuch in
Weimar zu Zeiten der DDR nicht vergessen. Das ist ein etwas unangenehmes
Kapitel, über das man sich in Frankreich ausserhalb des germanistischen
Berufsstandes vielleicht nicht richtig im Klaren ist. Während
der Existenz zweier deutscher Staaten wurde um das Vorrecht an der
bedeutenden Ahnenschaft und den wichtigen Kulturgütern gerungen.
Wagner, Goethe oder die romantische Malerei eines Caspar David Friedrich
wurden in beiden deutschen Staaten festlich begangen. Bis 1989 war
Weimar Teil der Deutschen Demokratischen Republik, was diese natürlich
weidlich ausnutzte. Gleichwohl muss ich sagen, dass die damals existierende
Stiftung Weimarer Klassik eine interessante Institution war, die
eine wirkliche Ausstellungs- und Veröffentlichungspolitik betrieb
und die sich um die Einrichtung von Sammlungen und die Organisation
von Konferenzen bemühte. Diese Tatsache lässt sich nicht
einfach so vom Tisch wischen. Was dort von Thomas Manns Besuch zu
Beginn der Staatsgründung der DDR an bis zum Mauerfall für
Goethe getan wurde, sollte nicht einfach als vernachlässigbar
betrachtet werden.
Auch wenn jetzt
die Bundesrepublik wieder in Besitz genommen hat, was sie stets
als ihr natürliches Erbe und als ihre natürliche Fortsetzung
betrachtet hat, habe ich trotzdem den Eindruck, dass die Weimarer
Festveranstaltungen zu Ehren von Goethes Geburtstag ein bisschen
zu akademisch geraten sind. Sie erscheinen mir allzu offiziell,
um mich von der Lebendig-keit, dem sich fortsetzenden konkreten
Einfluss Goethes im heutigen Deutschland überzeugen zu können.
Ich denke nicht, dass Goethe für die Deutschen viel bedeutet.
Er ist sicherlich eine bedeutende Persönlich-keit, vor allem
aber eine bedeutende Persönlichkeit der Vergangenheit. Dem-gegenüber
glaube ich, dass die Goethe-Veranstal-tungen in Frankreich aufrichtiger,
spontaner und damit auch für die Zukunft fruchtbarer waren,
weil sie nur die Spezialisten betrafen und weil sie einen deutlich
geringeren Personenkreis angesprochen haben.
Forum: Sie
haben auch Schiller erwähnt. Können Sie noch einmal auf
Goethes Beziehungen zur Romantik zu sprechen kommen?
F. Claudon:
Zwischen Goethe und den Romantikern, zumindest den deutschen Romantikern
gab es keine grossen Übereinstimmungen. Jedenfalls ist das
Drama in der Art von Faust oder Goetz von Berlichingen sicher keine
Erfindung Goethes. Es ist vielmehr in England bzw. Spanien entstanden,
wenn man Schlegels Theorie folgt und sich auf das spanische Theater
des siglo d'oro bezieht. Ausserdem gelten die Werke Diderots zu
Goethes Zeiten als dramatisches Vorbild. Dennoch ist es Goethe mit
Egmont, Goetz von Berlichingen und Faust, Schiller mit Die Räuber
gelungen, das ihnen eigene Drama zu einer Waffe gegen das französische
Theater, d.h. gegen die französische Tragödie umzuschmieden.
So gesehen haben Goethe und Schiller einen wichtigen, zentralen,
wesentlichen, unauslöschlichen Beitrag zur Romantik geleistet.
Was sich beispielsweise in Frankreich um die Herausbildung des romantischen
Dramas abspielte, lässt sich auf die französischen Übersetzungen
Goethes und Schillers zurückführen und auf die Auseinandersetzungen,
die dadurch - besonders auch durch Madame de Staël mit Über
Deutschland - angeregt wurden.
Es muss dabei
allerdings auch an Goethes Einfluss auf den Roman erinnert werden.
Der Roman der Romantik wäre ohne Goethe sicherlich nicht das,
was er ist. Wilhelm Meister ist der Inbegriff des Bildungsromans,
der offensichtlich ein Modell darstellte, dem die französischen
Romanschriftsteller stillschweigend folgten, vielleicht ohne dass
sie sich dessen überhaupt bewusst gewesen wären. Rot und
Schwarz von Stendhal ist ein Bildungsroman, Flauberts Lehrjahre
des Gefühls ist ein Bildungsroman, Jean-Christophe von Romain
Rolland ist ebenfalls ein Bildungsroman, genauso wie Gides bereits
zitierte Falschmünzer. Goethes Beitrag zum Roman ist somit
unübersehbar. Er setzt bei dem romantischen Roman an. Balzacs
Verlorene Illusionen ist nichts anderes als ein Bildungsroman. Aus
all dem wird deutlich, wie stark Goethe auf die romantische Bewegung
gewirkt hat. Ich würde allerdings behaupten, dass dieser Einfluss
auf die europäische Romantik in ihrer Gesamtheit spürbarer
war als auf die romantische Bewegung in Deutschland. Zum Beispiel
scheint mir kein wirklicher Bezug zwischen Hoffmanns Erzählungen
und Goethe zu bestehen oder auch zwischen Goethe und Heinrich von
Ofterdingen von Novalis, obwohl das doch auch ein Bildungsroman
ist.
Goethes Einfluss
auf die Romantik ist somit also merkwürdigerweise hinsichtlich
der europäischen und besonders der französischen Romantik
stärker als in bezug auf die deutsche Romantik. Daneben sollte
aber sein Einfluss auf die Lyrik, auch wenn das ein ausgesprochen
komplexes Problem darstellt, gleichfalls nicht unterschätzt
werden. Der Vers wurde mit Goethe geschmeidiger, plastischer, abwechslungsreicher
in seiner Tonlage. Seine thematische Vielfalt und seine grossen
Liebesdichtungen haben die deutschen Dichter der Romantik sicherlich
stark beeinflusst. Gleiches lässt sich allerdings für
die Mehrheit der französischen Romantiker nicht behaupten,
die von diesen Gedichten erst sehr viel später, nach ihrer
Übersetzung, Kenntnis nahmen. Ich glaube, dass diese Gedichte
vor der Anthologie von Gérard de Nerval in den Jahren 1830
nicht übersetzt worden waren. Die gerade erwähnten Charakteristika
des Goetheschen Werks - der grosse Liebesdichter - haben die deutschen
Dichter der Romantik zwar durchaus interessiert, aber vor allem
wohl die Dichter der zweiten Generation, d.h. weniger jene, die
wie Novalis um die Jahrhundertwende starben, als Dichter wie Brentano,
Arnim, Eichendorff, Uhland und vor allem Heine, der zwar oftmals
zu den Romantiker gerechnet wird, der aber genauso gut als Gegenromanti-ker
gelten kann. Heine ist ein Sonderfall. Mit seiner Lorelei hat er
allerdings der Sache der Romantik einen un-schätzbaren Dienst
erwiesen. In den Augen eines gewöhnlichen Franzosen ist, was
die Lyrik betrifft, die deutsche Romantik gleichbedeutend mit Heine.
Forum: Goethe
wurde doch aber auch von der Suche nach dem Universellen beeinflusst,
wie sie für die Frühromantik prägend war
F. Claudon:
Wenn Goethe und die Frühromantiker - wie Schlegel, Novalis
u.a. - etwas eint, so ist es in der Tat eine gewisse Vorliebe, ja
Manie für das Szientifische und Klassifizierende. Es ist die
Zeit der sich ausbildenden Naturwissenschaften. Goethe war genauso
wie Schlegel und Novalis sehr an den Naturwissenschaften interessiert,
an Botanik ebenso wie an Mineralogie oder Zoologie. In dieser Zeit
beginnt man in den Naturwissenschaften - um ein Beispiel auszuwählen,
das für meinen Berufsstand, den der Komparatisten interessant
ist - mit einem vergleichenden Ansatz zu arbeiten: es gibt eine
vergleichende Anatomie, eine vergleichende Botanik, eine vergleichende
Philologie usw. Kenntnisse wie Sprache oder Künste wurden nicht
länger als isolierte Produktionen betrachtet, als eine Form
erratischer, voneinander getrennter Blöcke, sondern vielmehr
als ein sich baumförmig gruppierendes Ganzes, dessen Stamm
vom Wissenschaftler lediglich rekonstruiert werden müsse. Goethe
fühlte sich von dieser Art Denken, das sowohl ein wissenschaftliches
als auch ein frühromantisches Denken war, stark angezogen.
Dieser Ansatz ist für mich als Professor für Vergleichende
Literaturwissen-schaft von ganz besonderem Interesse, weil damit
ein Konzept in Mode kam, auf das wir oft zurückgreifen, nämlich
das Prinzip der Weltliteratur. Goethe denkt, nicht anders als es
in den Theorien der romantischen Theoretiker wie den Gebrüdern
Schlegel in den Jahren 1800 bis 1806 zum Ausdruck kommt, dass es
keine französische Literatur hier und dort eine italienische
gebe. Beide seien vielmehr Zweige ein und desselben Baumes, dessen
Stamm Weltliteratur heisse.
Forum: Lässt
sich darin nicht ein Anliegen Goethes entdecken, der das "Ganze"
gegenüber den "Teilen" und vor allem gegenüber dem "Fragmentarischen"
bevorzugte?
F. Claudon:
Ja. Lassen Sie mich diesbezüglich noch kurz auf eine Überlegung
Goethes zu sprechen kommen hinsichtlich der reinen Elemente. In
den Wahlverwandschaften versucht Goethe zu bestimmen, was die reine
Liebe sei, d.h. die Liebe aus Neigung, so wie beispielsweise Eisen
vom Magnet angezogen wird. Ähnliches gilt auch in bezug auf
die Literatur. Mindestens zweimal hat Goethe versucht, reine Gattungsbeispiele
- eine Novelle, ein Märchen - zu schreiben, die weder mit einer
einzigen Figur noch mit einem Ereignis zu tun haben. Als Goethe
eine Novelle oder ein Märchen schreibt, liegt er mit den Romantikern
absolut auf einer Wellenlänge, die zur selben Zeit gerade zu
bestimmen versuchen, was Literatur ursprünglich, ihrem Wesen
nach sei. Das ist eine hoch interessante und noch heute aktuelle
Fragestellung, versuchen doch auch die Linguistik und die strukturale
Erzählforschung herauszuarbeiten, was einen Text eigentlich
zu einem literarischen Text macht, was die Literarizität, wie
Jakobson sagen würde, ausmacht. Mit eine Novelle, ein Märchen
hat Goethe also gewissermassen experimental im Labor versucht, Literarizität
zu schaffen.
Forum: Welchen
Stellenwert hat Goethe den Begriffen des Kosmopolitischen und der
europäischen Kultur beigemessen? Lässt sich bezüglich
dieser Begriffe von einer Aktualität des Denkens Goethes sprechen
oder würde dies nur zu Fehlinterpretationen Anlass geben?
F. Claudon:
Das ist eine interessante Frage! Der Begriff des Kosmopolitischen
stand zur Zeit Goethes bei den Denkern hoch im Kurs. Lassen Sie
uns in diesem Zusammenhang auf ein Detail zurückkommen. Ich
hatte ja bereits daran erinnert, dass Goethe von Napoleon mit dem
Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet worden war. Als dieser in den
Jahren 1813 und 1814 Deutschland verloren geben musste, hat sich
die gesamte romantische Jugend unter dem Banner des Königs
von Preussen bzw. des österreichischen Kaisers versammelt,
um die Franzosen aus Deutschland zu vertreiben. Sie war der Ansicht,
dass diese im Grunde ein Hindernis zur Entfaltung der deutschen
Kultur bildeten und Deutschland nur daran hinderten, sich dem romantischen
Lebensgefühl hinzugeben. Die Freiheitskriege hatten alle deutschen
Denker - nach dem Vorbild von Karl Marie von Weber - mit Begeisterung
erfüllt. Genau in diese Zeit fällt auch der tiefe Bruch
zwischen Goethe und seiner Zeit. Goethe gilt zu diesem Zeitpunkt
als ein Mann einer vergangenen Zeitrechnung, der die geschichtliche
Entwicklung nicht begriffen habe und seine Landsmänner deutscher
Sprache verrate, weil er sich als Europäer betrachte, als ein
Bürger Europas oder, wie es damals hiess, als ein "Kosmopolit".
Das war nämlich die eigentliche Bedeutung, die man dem Wort
"Kosmopolit" gegeben hatte. In einer gar nicht so weit zurückliegenden
Epoche kam das Wort "Kosmopolit" in den marxistischen Regimen einer
Kritik gleich, einer Verurteilung. Ein kosmopolitischer Geist war
als Negativbild jemand, der die nationalen Interessen seines Landes
und seines Regimes verriet.
1813 beharrt
Goethe auch weiterhin auf einer Haltung, auf Ansichten, Vorstellungen
und Verhaltensweisen eines Kosmopoliten. Kosmopolit ist, wer Fremdsprachen
spricht, alle Länder liebt, wer zum Beispiel der Ansicht ist,
dass die beste Architektur in Italien, das beste Theater aber in
Frankreich zu sehen sei, dass wiederum die schönste Dichtung
vielleicht, ganz gewiss aber die schönste Musik aus Deutschland
komme. Darin besteht das Kosmopolitische. In der geistigen Öffnung
nämlich und der Weigerung zu behaupten, dass eine Zivilisation
der anderen überlegen ist. Gleichwohl wird dieses Urteil -
zumindest damals - insgeheim abgeschwächt: Die beste Zivilisation
sei immer noch die europäische, und ich persönlich bin
nicht sicher, ob sich daran viel geändert hat. Ich glaube,
dass die europäische Zivilisation in seiner kosmopolitischen
Gestalt noch eine Zukunft hat!
In Goethes
Zeit war man Europäer oder gar nichts. Genau darin bestand
Goethes, für seine Zeitgenossen so unverständliche Haltung.
Es bedeutet das alte Europa in der Fortsetzung Roms und Griechenlands.
Das ist ein ganz zentraler Punkt: Das Europa der Moderne steht mit
seiner von ihm vermittelten Botschaft von Humanismus, Schönheit
und Toleranz usw. in direkter Nachfolge der griechischen Antike.
In der Folgezeit
hat das wilhelminische Deutschland und auch das Deutschland der
Nazizeit grossen deutschen Künstlern wie Wagner ihre Ehrung
erwiesen, der sich eben auch als grosser europäischer Künstler,
als eine Figur Europas und der Welt betrachtete. Heutzutage versteht
man den Begriff des Kosmopolitischen anders, als ihn Goethe verstanden
hatte. Ich habe den Eindruck, dass man diesen Sinn durchaus entstellt,
weil sich Goethe doch allein auf das Kulturelle bezog. Goethe war,
denke ich, unpolitisch, ganz und gar unpolitisch. n
Eigene
Übersetzung des Forum
Veröffentlichungen
- "La Guirlande de Chopin" - ouvrage en collaboration
franco-polonaise - à paraître.
- "Vivant
Denon" (texte receuillis par B. Bailly et F. Claudon) - UTB,
Chalon - 1998.
- "Paul
Casin - 1881-1963" (textes recueillis par A. Nawrocki et F.
Claudon) - 1998.
- "Ils
nont jamais été représentés à
lOpéra" (textes recueillis par F. Claudon et J.C.
Yon) - Die, Couleurs locales - 1998.
- "Les
littératures de langue allemande depuis 1945" - E. Tunner,
F. Claudon - Nathan Université, coll. fac. littératures
étrangères - 1995.
- "Le
voyage romantique - Des itinéraires pour aujourdhui"
- Editions Philippe Lebaud - 1986.
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