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• Die Zivilgesellschaft und das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW)
Das DFJW ist eine wichtige Mittlerinstitution für den Dialog der deutschen und französischen Zivilgesellschaft. Zudem dienen seine Arbeitsmethoden als Beispiel sowohl für die Brüsseler Programme als auch für andere bilaterale Beziehungen in Europa. Es ist eine Zukunftswerkstatt für Deutsche und Franzosen. Durch die Zusammenarbeit mit staatlichen und privatwirtschaftlichen Vertretern der Ausbildung für Jugendliche, mit den Universitäten, den Berufskammern, aber auch mit den neuen gesellschaftlichen, kulturellen und soziopolitischen Initiativen entsteht eine Diologmöglichkeit der Zivilgesellschaft, ohne den eine deutsche-französische Politik in Europe weder denkbar noch glaubwürdig wäre.© 2000
Rudolf HERRMANN - Koordinator DFJW - OFAJ


Haben sich Deutsche und Franzosen noch etwas zu sagen? Es läuft doch alles: Beide Länder sind in der Europäischen Union, haben demnächst dieselbe Währung, betreiben beide ihre Modernisierung im Rahmen von Mondialisierung und Globalisierung. Hatten sie sich etwas zu sagen? Nach Krieg und Leid, Verbrechen und mutigem Widerstand, Hass und Verständnislosigkeit war vieles neu zu definieren, um deutsch-französische Partnerschaft neu zu begründen. Ist diese Periode zu Ende, zumal die neue europäische Lage nach 1989 andere Aufgaben stellt?

Hubert Védrine ist beizustimmen, wenn er feststellt: Die deutsch-französischen Beziehungen sind in die Phase der „Post-réconciliation" eingetreten. Die neue französische Botschaft, die am Brandenburger Tor in Berlin an historischer Stelle wiederentsteht, wird dies schon von aussen architektonisch sichtbar machen. Heisst aber die „wiedergefundene Zeit" normaler, aber besonders intensiver Zusammenarbeit der Regierungen und vieler Verwaltungsstellen, dass jetzt das „Glück der Routine" ausgebrochen ist? Dies hiesse die Folgen der Vereinigung, die man als Tiefenbeben im deutsch-französischen Verhältnis Ernst nehmen sollte, ebenso zu verkennen wie die Probleme der Umsetzung der neuen europäischen Realitäten in den nationalen Alltag und die Identitätskrise angesichts der globaleren Welt. Waren die ersten Bemühungen im deutsch-französischen Verhältnis nach dem zweiten Weltkrieg politisch und sozialpsychologisch auf der Angst vor der Wiederholung des Schreckens, auf seiner gemeinsamen Überwindung aufgebaut, so scheint jetzt die Epoche der Überwindung der Angst vor der Zukunft, vor der Zukunfts- und Wesenlosigkeit begonnen zu haben. Natürlich haben Regierungen keine Angst, sie sind dafür da, so etwas nicht aufkommen zu lassen.

In dieser neuen Epoche zeigt es sich, dass die Gründerväter und -mütter des deutsch-französischen Neuanfangs über ihre Zeit hinausgeblickt haben. Mit ihrer Aufforderung an die Jugend, die „Baumeister der Zukunft" zu sein (Charles de Gaulle 1962 in Ludwigsburg) und der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks 1963 eröffneten sie die Perspektive, die jetzt fruchtbar wird. Vorbei die Zeit, in der das blosse Entdecken des Andern schon ein wichtiger Schritt war, vorbei die historische Ohrfeige von Mme Klarsfeld für einen deutschen Bundeskanzler mit Vergangenheit, vorbei die halbherzige Unterstützung eines riesigen Netzwerks von Beziehungen, die um das DFJW in einem facettenreichen interkulturellen Dialog, in Debatte und Begegnung entstand. Zweierlei ist klarer geworden. Das DFJW ist eine wichtige Plattform für den Dialog der deutschen und französischen Zivilgesellschaft, und seine Arbeitsmethoden sind ausserdem exemplarisch ebenso für Brüsseler Programme wie für andere bilaterale Beziehungen in Europa.

Aus dem DFJW ist mehr als eine Klimaanlage der deutsch-französischen Beziehungen oder eine mentale Anwärmvorrichtung für deutsch-französische Koopera-tionsbereitschaft geworden. Hier ist die Zukunftswerkstatt von Deutschen und Franzosen für dieses Jahrhundert. Die Kooperation mit öffentlichen und freien Trägern der Jugendbildung, mit Hochschulen, Kammern, aber auch mit neuen sozialen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Initiativen ergibt einen Freiraum für den Dialog der Zivilgesellschaft, der deutsch-französische Politik in Europa überhaupt erst möglich und glaubwürdig macht. Dabei geht es weniger um Ängste als vielmehr um positive Beispiele wie Sorgen und Zukunftsaufgaben von Franzosen und Deutschen, oft auch mit Nachbarn aus Mittel- und Osteuropa oder aus dem Mittelmeerraum, gemeinsam angepackt werden können. Wichtig dafür sind ebenso die Fähigkeit, Verständnis für andere Lösungszugänge zu entwickeln wie die Kunst des Zuhörens und der gemeinsamen Reflexion sowie der Wille zur Verknüpfung von Debatten.

Die Themen brauchen nicht gesucht zu werden, sie liegen jungen Franzosen und Deutschen auf der Zunge (und auf dem Herzen). Einige Arbeitsschwerpunkte unter vielen können das beleuchten: Die Reform unseres demokratischen Lebens, die Bürgerbeteiligung, die Mitsprache in öffentlichen Debatten sind nicht nur aktuell wegen der Skandale in unseren Gesellschaften. Die Causa Österreich stellt auch generell innerhalb der Europäischen Union die Frage nach Wertgemeinschaft, nach Ausgrenzung, Immigration und Ausländerhass. Dazu finden nicht nur viele Gespräche mit demokratischen Kräften in deutsch-französischen Begegnungen statt. Auch Jugendbeiräte in Gemeinden und Partnerschaftskomitees werden dazu mobilisiert. Sie sind schon mit vielen Verbänden dabei, Drogenpolitik, Gewaltbereitschaft und Sektenfragen zu diskutieren. Sinnfragen und Spiritualität (oder Religion) sind der Hintergrund ganz praktischer Anliegen. Wie kann ich mich qualifizieren im Nachbarland, wie kann Auslandsaufenthalt zur sozialen und beruflichen Integration auch zu Hause auf dem eigenen Arbeitsmarkt beitragen? Ist die Reform der Berufsausbildung durch grenzüberschreitende Erfahrungen voranzubringen? Individuell gefragt, welchen Nutzen hat für mich Erfahrung im Nachbarland? Wie finde ich ausbildungsbegleitende oder studienbegleitende Praktika?

Eine Faszination stellt zurzeit der Riesenbauplatz Berlin dar. Die kreative Unruhe und Gestaltungsfreude haben hier einen Fixpunkt für viele deutsch-französische Initiativen gefunden. Sie weisen aber nicht nur auf die globale Informationsgesellschaft hin, sondern zeigen auch, dass Erinnerungsarbeit, travail de mémoire, nötig ist, um Begründungen und ethische Klarheit zu gewinnen. Der grosse Erfolg von Kooperationen des DFJW mit Radio France und Deutschlandfunk z. B. über die „Lettres de poilus - Feldpostbriefe" belegen das. Die Menschenrechte werden jeden Tag erkämpft und bewiesen. Wichtig ist, dass Begegnung und Austausch mehr als bisher die öffentliche Diskussion zur Zukunft der Zivilgesellschaft und jedes Einzelnen stärken. Dafür ist Schulaustausch ebenso wichtig wie Berufsausbildung oder Studium.

In diesen Tagen war sowohl der 300. Todestag von René Descartes wie der 100.(!) Geburtstag von Hans-Georg Gadamer. Die beiden Namen deuten an, um was es geht: Wahrheit und Methode, Verständnisstrategien und Kriterien. In jedem Falle aber um Engagement für Zukunft und Orientierung an den Sorgen und Visionen des Menschen in seiner Zeit. Zwischen Deutschen und Franzosen ist noch viel zu besprechen. Von Langeweile keine Rede.



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