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• Vergangenheit und Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen
Teil II: Die Zukunft
In diesem zweiten, der Zukunft zugewandten Teil werden wir mit der Notwendigkeit konfrontiert, das, was uns über unsere Unterschiede hinaus eint, zu begreifen. Dadurch wächst unser Verständnis für die Bedeutung unserer bilateralen Beziehung und eines ausgebauten Wohlfahrtsstaats als binnenwirtschaftlicher Voraussetzung für die Teilnahme an dem Weltmarkt.
Vor dem Hintergrund der Globalisierung spricht sich der Verfasser auch für die Bildung von "Koalitionen der Kulturen" aus, vor allem auch einer "Sprachenkoalition". Wir sollten dafür Sorge tragen, dass das Französische in Deutschland und das Deutsche in Frankreich die je erste Fremdsprache ist. In diesem Zusammenhang haben die Intellektuellen in der Politik ihren Platz, um zum Nachdenken über diese Art Fragen anzuregen, die für unsere Zukunft angesichts einer sich wandelnden Welt ausschlaggebend sein werden.
© 2000
Prof. Dr. Wolf LEPENIES - Prof. für Soziologie an der Freien
Universität Berlin


Als ich von der Vergangenheit sprach, habe ich deutlich zu machen versucht, wie sehr die deutsch-französischen Vergangenhei-ten unsere gemeinsame europäische Zukunft beeinflussen. Die deutsch-französischen Beziehungen können sich nicht länger mehr durch sich selbst legitimieren; sie müssen sich durch ihren Beitrag zur Weiterentwicklung und inneren Stärkung Europas rechtfertigen. "Qui parle de l'Europe a tort", pflegte Bismarck zu sagen, wobei er auf die Tatsache anspielte, dass sich im Zeitalter der mächtigen und ihrer Macht bewussten Nationalstaaten in der Regel nur die Unterlegenen und die Zukurzgekommenen auf Europa beriefen. Im Zeitalter der sich abschwächenden Nationalstaaten aber müssen sich heute gerade grosse Länder wie Frankreich und Deutschland auf Europa berufen: "Qui parle de l'Europe a raison."

Es stellt sich dabei im Hinblick auf jene nur allzu 'natürlichen', bilateralen Differenzen, die so schnell nicht verschwinden werden, die Frage, ob der Zusammenhalt des Kontinents nur durch ein Pathos der Vereinheitlichung oder nicht vielmehr auch durch ein pragmatisches, wenn nicht gar zynisches 'Verklammern' grundlegender, jedoch wechselseitig nützlicher Differenzen befördert werden kann.

Die Zusammenarbeit auf der Grundlage spannender Unterschiede der Erfahrungen und Erwartungen gehört ebenso zur europäischen Agenda der Zukunft wie Fortschritte in der Vereinheitlichung auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Gerade in deutsch-französischen Kooperationen habe ich selbst eine wahrhaft europäische Erfahrung gemacht: unsere Unterschiede jeweils auf einen Nenner zu bringen, ist schwierig, zugleich aber ausserordentlich lehrreich und befriedigend - mit wichtigen Schlussfolgerungen für heimische Überzeugungen und nationale Administrationen.

Das vor allem wirtschaftlich zusammenwachsende Europa bedarf im Bereich der Kulturpolitik einer entsprechenden Stärkung durch die 'Europäisierung' nationaler Institutionen. Was in der Wirtschaft längst eine Notwendigkeit ist, sollte im weiten Feld der Kultur zu einer von allen Seiten erwünschten Selbstverständlichkeit werden. Den Einigungsbemüh-ungen von 'oben' (Brüssel) müssen vielfältige und flexible Einigungschritte von 'unten' entsprechen. Nur sie können zu neuen Strukturen führen, die der besonderen Interessen- und Motivlage der einzelnen Akteure gerecht werden. Wenn die europäische Einigung nur auf der Ebene übernationaler Institutionen voranschreitet, wird, so steht zu befürchten, der Bereich der einzelstaatlichen Institutionen zu einem möglichen Reservoir längst überholt geglaubter nationaler Ressentiments. Wir müssen Europa endlich 'veralltäglichen', d.h. noch stärker als bisher zu einem Element unserer normalen Erfahrung machen.

Auch im engen Rahmen der von mir überschauten Wissenschafts- und Kulturpolitik habe ich die Erfahrung gemacht, wie sehr der an Heftigkeit zunehmende Himmelsrichtungsstreit innerhalb Europas die Fortschritte der europäischen Union hemmt. Deren Erweiterung nach Osten wird von den Südstaaten Europas mit zunehmendem Misstrauen betrachtet - umso mehr, als es für eine Erweiterung nach Süden, jedenfalls innerhalb Europas, keine Spielräume mehr gibt(1). Frankreich befindet sich hier in einer besonders schwierigen, aber auch chancenreichen Lage, weil es sich die Nord-, wie die Südoption offenhalten kann. Wie aufschlussreich wirkt es gerade heute, dass Fernand Braudel sein grosses Mittelmeer-Buch in deutscher Gefangenschaft konzipierte!(2)

Für Deutschland wird in dieser Situation, die Europa immer wieder in Patt-Situationen führt, Frankreich weit stärker als bisher zum Mittler werden und wird so mit dazu beitragen, dass es in Europa endlich zur notwendigen Koalition der Himmelsrichtungen kommt.In diesem Zusammenhang gilt es auch, der Kooperation mit Frankreich in der europäischen Begegnung mit dem Islam eine weitaus grössere Bedeutung zu schenken als bisher. Es tut uns Deutschen gut, von Frankreich und anderen mediterranen Ländern an die islamische Prägung von Mittelalter und Mittelmeer erinnert zu werden, und ich selbst habe innerhalb eines Berliner Arbeitskreises 'Islam und Moderne' schätzen gelernt, wie wichtig die unterschiedlichen Erfahrungen, Mentalitäten und wissenschaftspolitischen Zielsetzungen sind, mit denen französische Kollegen sich dieses Themas annehmen. Dies heisst nicht, dass wir jede Praxis des französischen Umgangs mit dem Islam oder mit muslimischen Gesellschaften gutheissen müssten(3) - gerade das Zusammenspiel innereuropäischer Differenzen aber könnte hier zur Korrektur eurozentrischer Perspektiven beitragen. Nur auseinanderdividieren lassen sollten sich die Europäer dadurch nicht mehr. Dabei denke ich an Versuche von Seiten muslimischer Wissenschaftler, eine 'französische', d.h. vernunftbesessene, gegen eine 'deutsche', d.h. vernunftkritische Aufklärung auszuspielen und die letztere zu privilegieren(4). Solchen Spaltungsversuchen gegenüber gilt es, im Bereich der Geistespolitik ein Mindestmass an europäischer Solidarität zu bewahren.

Zugleich liegt es nahe, das heute mehr denn je notwendige Überdenken der Aufklärung zu einem deutsch-französischen Projekt zu machen. Um im Zeitalter der Globalisierung und einer weitgehenden Ent-Europäisierung der Weltkulturen die Aufklärung wieder attraktiv und universal anschlussfähig zu machen, bedarf es grosser Anstrengungen. Die europäische Aufklärung tout court war vernunftverklärend, eurozentrisch-überheblich, sozialpolitisch untermotiviert, weitgehend unsensibel gegenüber der Spannung zwischen dem Willen zur Freiheit und dem Wunsch nach Gleichheit und im wesentlichen von männlichen Interessen bestimmt. Die Dialektik der Aufklärung hat uns darauf hingewiesen. Ob es noch die Chance zu einer bescheidenen, weiblicheren, stärker einem sozialen Gewissen verpflichteten Aufklärung gibt, die sich anderen Kulturen gegenüber anschlussfähig hält, ohne sich ihnen durch einen gewissenlosen Relativismus anzubiedern oder sie durch einen aggressiven Universalismus dominieren zu wollen - um dies herauszufinden, sollten französische und deutsche Intellektuelle zusammenarbeiten.

Das Stichwort 'Sozialpolitik' führt dabei unmittelbar in die Gegenwart und überschreitet den Rahmen binneneuropäischer Kooperationen. Weltweit besteht die grösste intellektuelle und gesellschaftliche Herausforderung heute in der dringend notwendigen Repolitisierung der Ökonomie, d.h. in Versuchen, zu einer demokratisch verfassten Kontrolle des Weltmarktes und der internationalen Finanzströme zu kommen. Auch hier sehe ich für eine deutsch-französische Kooperation besondere Chancen. Die Gefahr liegt dabei in einer aus der aktuellen Situation gespeisten Überpolitisierung eines solchen Programms, das deutlich anti-amerikanische Züge tragen würde. Diese Gefahr liegt umso näher, als man sich ja intellektuell ebenso eindeutig von 'Chicago', also dem verantwortungslosen Neoliberalismus, wie politisch ebenso eindeutig von 'Washington', also der Ideologie des Weltmacht-Monopolismus, entfernen möchte.

Gerade in deutsch-französischer Kooperation dürfte heute der Versuch zu einer Repolitisierung der Ökonomie nicht rückwärtsgewandt sein wie es in den zwanziger und dreissiger Jahren der Fall war, als der Anti-Amerikanismus in Deutschland und Frankreich nicht nur die Rechte einte und man in beiden Ländern genau zu wissen glaubte, welcher Nationalität der verhasste homo oeconomicus war: er war ein Yankee(5). Mit anderen Worten: das Stichjahr eines solchen deutsch-französischen Projekts sollte 1989 sein - und nicht 1968. Auch sollte man sich - auf diese Gefahr hat François Furet eindringlich hingewiesen - davor hüten, erneut den Versuch zu machen, die Unversöhnlichkeit von Kapitalismus und Demokratie zu behaupten.

Die Frage, die sich heute dringend stellt, ist die nach einem Kapitalismus, der seiner sozialen Verantwortung gerecht wird. Es ist die Frage nach der sozialen Marktwirtschaft. Hier könnten die deutschen Nachkriegserfahrungen mit dem 'rheinischen Kapitalismus' und die höhere Mobilisierungs-bereitschaft französischer Intellektueller für sozialpolitische Fragen in einen fruchtbaren Diskussionszusam-menhang gebracht werden. Entscheidend wichtig wäre dabei wiederum die Einsicht, dass aus Ressentiment gespeiste moralische Appelle in der Regel nicht ausreichen dürften, um die Wirtschaft in eine grössere sozialpolitische Verantwortung zu zwingen. Erfolgversprechender ist, das zeichnet sich schon heute ab, das Plädoyer für eine Sozialpolitik, die sich rechnet. Europa sollte weiter auf einem Weg voranschreiten, der zeigt, dass im Zeitalter der Globalisierung der Wohlfahrtsstaat wirtschaftlich keinen Wettbewerbsnachteil, sondern auf lange Sicht sogar einen Wettbewerbsvorteil bedeutet(6). Der ausgebaute Wohlfahrtsstaat ist die binnenwirtschaftliche Voraussetzung für die erfolgreichen Teilnahme am Weltmarkt.

Ich komme abschliessend zum Plädoyer für die Bildung von Lerngemeinschaften zwischen den Kulturen. Ich wiederhole es auch hier, denn die zugrundeliegende Idee halte ich für richtig und wichtig. Wir leben in einer Zeit der grossen, offenen Fragen. Wir haben keineswegs nur - man muss dem Bundespräsidenten auch einmal widersprechen - Umsetzungsprobleme, wir haben Erkenntnisprobleme. Geht der Arbeitsgesellschaft die traditionelle Erwerbsarbeit aus? Wie wird die Wissensgesellschaft der Zukunft aussehen?

Unter welchem Zeitregiment werden wir in Zukunft leben, wenn sich herausstellt, dass neben die traditionelle Arbeits- und Freizeit eine soziale Zeit treten muss, in der sich jeder für die Gemeinschaft sorgt? Was kann unsere Gesellschaften künftig noch zusammenhalten? Die Krise der Moderne drückt sich in diesen Fragen aus, und sie betreffen die Europäer deshalb besonders stark, weil sie kulturelle Selbstverständlichkeiten attackieren, die ihren Ursprung auf unserem alten Kontinent haben.

Viel wird in der Weltgesellschaft davon abhängen, dass sich zwischen den Kulturen zunehmend Lerngemeinschaften herausbilden und dadurch die gemeinsamen Innovationspotentiale wachsen. Aus der Erfahrung nach dem zweiten Weltkrieg wissen gerade wir Deutschen, welche entscheidende Rolle die Lerngemeinschaft zwischen den Vereinigten Staaten und Europa oder innerhalb Europas zwischen Deutschland und Frank-reich gespielt hat. Umgekehrt sind nach 1989 grosse Chancen vertan worden, weil - nicht zuletzt in Deutschland - der Westen sich in eine Belehrungsorgie steigerte, statt sich angesichts der neuen, unerhörten Herausforderungen in Wirtschaft und Politik auf ein gemeinsames Lernen mit dem Osten einzulassen. Die Industriegesellschaften des Westens, die sich zu lange in der Rolle von Belehrungskulturen gefielen, müssen wieder zu Lernkulturen werden.

Auch wenn die entscheidende Frage lautet, ob es zwischen nicht-westlichen und westlichen Ländern zur Bildung solcher Lerngemeinschaften kommen wird, bleibt die deutsch-französische Lerngemein-schaft innerhalb Europas und für den Kontakt Europas mit der Welt von herausragender Bedeutung.

In der verstärkten Kooperation unserer lokalen Wissenskulturen liegt eine entscheidende Aufgabe für die Zukunft. Besonders fruchtbar sind solche Lerngemeinschaften stets dann, wenn sie Differenzen nicht vorschnell überspielen, sondern kulturgeprägte Unterschiede auf intelligente Weise nutzen. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf die Sprachförmigkeit von Kultur unabdingbar. In beinahe jeder französischen Publikation zum Thema 'Kulturpolitik' ist, wenn die Rede auf die Zukunft kommt, die Prioritätensetzung klar: "Premier terrain: la langue."(7)

Ich halte diese Prioritätenset-zung für richtig(8). Zugleich glaube ich, dass die heute am meisten bedrohte Sprache das Englische ist - weil jeder auf der Welt glaubt, sie zu sprechen, ohne zu ahnen, dass sein Gestammel mit dem Idiom eines Charles Dickens oder Thomas Hardy auch nicht das geringste mehr zu tun hat. Der Kampf gegen das 'broken English' ist auch wegen dieser globalen Selbsttäuschung längst verloren. Die Zeiten werden nicht wiederkommen, in denen Julien Benda, dieser Liebhaber der Latinität und Feind jeden Nationalismus, in seinem 1933 geschriebenen Discours à la nation européenne wie selbstverständlich fordern konnte, die Sprache des vereinten Europa müsse das Französische sein.

Ich habe an anderer Stelle vorgeschlagen, im Englischen eine zweite Muttersprache zu sehen(9) - und ich möchte diesen Vorschlag heute nur terminologisch verändern. Im Zeitalter von e-Mail und Internet wird auf der ganzen Welt jedes Kind bald eine Muttersprache und eine, wie ich sie einmal nennen will, 'Kumpelsprache' lernen: ein Idiom, das 'Englisch' genannt wird. Mit diesem Idiom kann keine Muttersprache der Welt, mit ihm können auch Deutsch und Französisch nicht konkurrieren. Aber Deutsche und Franzosen sollten alle Anstrengungen unternehmen, um ihre Muttersprachen in möglichst vielen Ländern zur ersten Fremdsprache werden zu lassen, sie sollten dabei fair miteinander konkurrieren und sich wechselseitig eine sprachliche Meistbegünstigungsklausel gewähren. Wer von der notwendigen Aufrechterhaltung kultureller Differenzen überzeugt ist, muss energisch für eine stärkere Förderung der Fremdsprachen, und das heisst in Deutschland auch: er muss energisch für eine stärkere Förderung des Französischen plädieren. Darin steckt keine kulturhistorische Sentimentalität, sondern die feste Überzeugung, dass im Zeitalter der Globalisierung für die Beantwortung der entscheidenden Zukunftsfragen die Koalition der Kulturen, und das heisst auch: die Koalition der verschiedenen Sprachen von herausragender Bedeutung ist. Deutsche und Franzose verspielen die Chancen einer solchen grossen Sprachenkoalition auch dadurch, dass sie - in miteinander geteilter, intellektueller Faulheit - bei bilateralen Treffen in der Regel nach der Methode des kleinsten gemeinsamen Nenners verfahren und in scheusslichem Englisch miteinander parlieren.

Im zusammenwachsenden Europa stehen wir heute vor der Notwendigkeit, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen, in der die dringenden Probleme des Kontinents über Länder- und Sprachgrenzen hinweg gemeinsam diskutiert werden. Dazu muss nicht zuletzt die 'Exekutivlastigkeit' (Dieter Grimm) der Europäischen Union korrigiert werden. Eine Parlamentarisierung, d.h. Demokratisierung der europäischen Gremien und Instanzen tut dringend not. Dazu gehört auch eine stärkere Einmischung der Intellektuellen in die Politik. Hier können wir von den Franzosen lernen. In Frankreich waren auch die philosophes stets Alltags-Anthropologen, die sich nicht scheuten, 'sur le terrain' zu arbeiten. Für die meisten deutschen Intellektuellen ist bis heute die Politik ein zu weites Feld geblieben; tatenarm und gedankenvoll pflegen sie eine Tradition der distanzierten Besserwisserei. Wir haben viele hochmütige Heroen der Selbstreflexion, aber kaum jemanden, der sich einmischt.

Nicht ohne Ironie schrieb Paul Valéry einmal: "J'ai besoin d'un Allemand qui acheverait mes idées." Uns Deutschen tut es gut, zu bedenken, wie sehr wir, um die Vereinigung Europas zu vollenden, unsere französischen Nachbarn nötig haben.



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