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• Ein Gespräch mit Luc FERRY
In diesem Interview nimmt der französische Philosoph und Deutschland-Kenner Stellung zu zentralen Themen der europäischen Integration, die von den Urspüngen deutsch-französischer Missverständnisse über die Rolle der Menschenrechte gegenüber der Politik und der Moral bis zur Suche nach einem weltlichen Wertesystem in unseren Gesellschaften und der Grundlage pro- und antieuropäischer Haltungen reichen. In dem Interview werden auch Fragen des Erziehungssystems berührt, mit denen Luc Ferry als Vorsitzender einer Nationalen Programmkommission des französischen Erziehungsministeriums vertraut ist.© 2000
Luc FERRY - Philosoph


Deutsch-französisches Forum: Herr Ferry, welche Schlüsse ziehen sie als Interpret und Übersetzer von Kant aus ihrer persönlichen Erfahrung mit der deutschen Philosophie und der deutschen Kultur? Wie sehen Sie die Entwicklung der politischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland?

Luc Ferry: Ich hoffe, Sie sehen es mir nach, wenn ich mit einem alten Witz aus den 30er Jahren zuerst auf Klischeehaftes zu sprechen komme: Ein Franzose, ein Engländer und ein Deutscher sollen über Kamele schreiben. Der Franzose geht in den Jardin des Plantes, bleibt dort eine halbe Stunde, spricht mit dem Tierwärter, wirft dem Kamel ein Stückchen Brot hin, pisackt es mit der Spitze seines Regenschirms, geht wieder nach Hause und schreibt für seine Zeitung eine Glosse gespickt mit witzigen und geistreichen Bemerkungen. Der Engländer packt seinen Teekorb und seine komfortable Ausrüstung, schlägt sein Zelt irgendwo im Orient auf und kommt nach zwei Jahren mit einem prallen, detailreichen, aber unsystematischen Band ohne Schlussfolgerungen nach Hause, der gleichwohl einen echten dokumentarischen Wert besitzt. Der Deutsche schliesslich ist von dem fehlenden Ernst des Franzosen und der Ideenarmut des Engländers derart entsetzt, dass er sich in seine Studierstube zurückzieht, um dort ein mehrbändiges Werk zu verfassen mit dem Titel: "Das Bild des Kamels als Ausdruck der Vorstellung des Ich"! Trotz seiner vielen zweifelhaften Klischees ist uns dieser Witz heute noch zugänglich, auch wenn er völlig zurecht verdächtig erscheinen mag. Mit wenigen Strichen zeichnet er, was seit Madame de Staël eine Art von Literatur lang und breit darzustellen nicht müde wurde: Demnach verkörpere der Franzose den Esprit, gleichzeitig aber auch eine gewisse oberflächliche und manierierte Eitelkeit, der Deutsche dagegen Gedankentiefe, Systemdenken und Humorlosigkeit, verbunden mit einem Streben nach ungeschminkter Wahrheit und gedanklicher Strenge. Literatur für die Gesellschaft auf der einen, Metaphysik auf der anderen Seite, hier ein Faible fürs Mondäne, dort jene unübersetzbare Gründlichkeit, nach der der Idealist in seiner hochmütigen Selbstisolierung strebt. Was kommt in diesen Jahrhunderte alten Klischees eigentlich zum Ausdruck, dass sie sich stets wie von selbst noch in unseren belanglosesten Gesprächen über Deutschland einstellen? Zuallererst eine ganz eigene, wechselseitige Faszination, wie sie von Gegensätzen ausgeht. Auf der einen Seite eine lange Zeit staatenlose Gesellschaft, die noch heute in einer Form dezentralisiert ist, dass der Begriff "Provinzialismus" völlig unsinnig wäre. Auf der anderen Seite ein zuallererst staatliches, weil an den Hof gebundenes Modell des "Pariser Lebens", in dem Madame de Staël die grundlegende Differenz zwischen den beiden Ländern erblickt. Diese politische Variable wird ergänzt um eine religiöse Komponente, die die Wirksamkeit der Klischees nur noch verstärkt. Der Lutherismus tritt vor allem in der Ablehnung klerikaler Hierarchie und damit auch der gesellschaftlichen Vermittlung zutage. Die Wahrheit liege in des Menschen Herzen und einer unmittelbaren Mensch-Gott-Beziehung, nicht aber in einer kirchlich "autorisierten" Deutung des Evangeliums. Deswegen stiess auch die lateinische Bibelübersetzung auf Ablehnung, die man aller möglichen Sinnentstellungen bezichtigte. Darin wurzelt gleichfalls eine gewisse sprachliche Direktheit bei Luther selber, die diese Ablehnung in all ihrer Strenge symbolisiert. Die deutsche Philosophie verfolgt bis einschliesslich Marx, ja sogar bis zur Umweltbewegung unserer Zeit diesen Gestus einer Suche nach endgültigen und reinen Wahrheiten, während das gesamte französische Denken sich dagegen dem Verstehen "unmerklicher" Mechanismen des Gesellschaftslebens zuwandte. Montesquieu, Voltaire, Tocqueville, Proust auf der einen, Leibnitz, Kant, Hegel, Heidegger auf der anderen Seite. Auch wenn es notwendig ist, die Klischeebilder zu entlarven, um die berüchtigten "deutsch-französischen Missverständnisse" auszuräumen, darf doch die Beharrungskraft der Traditionen, die gerade der Lächerlichkeit preisgeben werden sollen, nicht unterschätzt werden.

Forum: Lassen sich die für Europa kennzeichnenden moralischen Werte auf die Menschenrechte und die demokratischen Prinzipien begrenzen? Muss der Ausgangs- und der Endpunkt von Politik und Moral in der Achtung der Menschenrechte und in dem Willen, deren Achtung zu gewährleisten, bestehen?

L. Ferry: Es wurde hinreichend oft darauf hingewiesen, dass die Menschenrechte allein noch keine Politik darstellen! Im übrigen hat die klassische Philosophie stets sorgsam zwischen Moral und Politik unterschieden, und sei es auch nur, weil letztere eben auch auf bekanntlich oftmals partikulare und konfliktuelle Interessen Rücksicht nehmen muss. Mehr noch: was eine Menschenrechtsideologie stets zu unterschätzen neigt, ist die tragische Dimension des Politischen im Sinne von Max Weber: Ich meine damit, dass die politische Entscheidung oftmals keine Entscheidung zwischen einer guten und einer schlechten Lösung ist, zwischen Gut und Böse, sondern zwischen einer Vielzahl von Lösungen, die durchweg mehr oder weniger schlecht sind! Trotzdem lässt sich aus inhaltlichen Gründen, die im wesentlichen mit der Geschichte des modernen Denkens in Europa zu tun haben, tatsächlich eine stark gewachsene Anziehungskraft des in den grossen Menschenrechtserklärungen zum Ausdruck kommenden Ideals beobachten. Ich sehe beim besten Willen keinen Grund, sich nicht darüber zu freuen.

Forum: In ihrem letzten Buch mit dem Titel La sagesse des modernes (zusammen mit André Comte-Sponville) sprechen Sie über die eigentliche Moral hinaus gehend von einer Lebensweisheit bzw. einer nicht religiös gebundenen Spiritualität in den modernen Gesellschaften. Worin bestehen denn deren Grundprinzipien?

L. Ferry: Was ist die Moral denn eigentlich? Im wesentlichen doch wohl ein Sprechen über das, was getan werden soll, und das, was nicht getan werden darf, im Grunde also ein Nachdenken über die verschiedenen Formen der Achtung des Anderen, wobei wir selbstverständlich stets immer auch der jeweils "Andere" sind: den Anderen nicht benutzen, ihn nicht wie eine Sache behandeln, ihm nicht grundlos Unrecht zufügen usw. Kurzum: Die Moral ist dann von Bedeutung, wenn es an ihr mangelt, weil sie die Bedingung für ein friedliches und zivilisiertes Zusammenleben darstellt. Aber sie gibt uns keinerlei Auskunft über den Sinn unseres Daseins, über das, was wir daraus machen sollten, selbst wenn das Ideal der Achtung des Anderen auf Erden vollständig verwirklicht wäre. Selbst wenn wir vollkommen moralische Wesen, Heilige, wären, würde uns dies doch keineswegs daran hindern, unglücklich verliebt oder krank zu sein, zu sterben oder Probleme bei der Erziehung unserer Kinder zu haben usw. Kurzum: Es gibt eine Reihe von Fragen, die nicht in den Bereich der Moral fallen, sondern in den Bereich der früher so genannten "Lebensklugheit", in der sich das philosophische Ideal in seinen wesentlichen Zügen widerspiegelt. Daraus ergibt sich auch die in meinen Augen entscheidende Frage, ob Europa laizistisch sein soll, ob die Religion folglich in diesem Raum zu einer lediglich privaten Angelegenheit geworden ist und welche kluge Lebenshaltung einem solchen Universum entsprechen kann. Darüber nachzudenken, erscheint mir umso dringlicher, als rund 40% aller Europäer Atheisten sind und die Moral für das Leben offensichtlich nicht hinreichend ist …

Forum: Wie lange lassen sich Ihrer Meinung nach im Namen der europäischen Idee die notwendigen konkreten Klarstellungen noch hinausschieben, die sich aus dem europäischen Integrationsprozess ergeben?

L. Ferry: Was mir auffällt, wenn ich Politiker für Europa Partei ergreifen höre, ist, dass das, was sie sagen, zumeist ausgesprochen nichtssagend wirkt. Ich persönlich habe für den Maastricht-Vertrag gestimmt und würde mich den Pro-Europäern zurechnen. Leider muss ich aber selbst zugeben, dass die Gegner Europas sehr oft intelligenter und überzeugender argumentieren als dessen Befürworter. Das ist zwar nicht in meinem Sinne, lässt sich aber durchaus nachvollziehen: Demokratie wurde immer mit der Vorstellung des Nationalstaates verbunden. Um von Demokratie sprechen zu können, bedarf es nämlich wenigstens einer Mindestbedingung: Die Bürger müssen sich in den Instanzen, die sie repräsentieren, der Einzelne muss sich in dem, was für die Gesamtheit steht, wiedererkennen. Im grossen und ganzen trifft dies in den Nationalstaaten durchaus zu: Trotz aller angemessenen Kritik und Zurückhaltung erkennen wir uns doch gleichwohl mehr oder weniger in unseren jeweiligen politischen Klassen wieder. Was wissen wir dagegen von den europäischen Institutionen? So gut wie nichts. Sie sind weder repräsentativ noch glaubwürdig noch werden sie von der erdrückenden Mehrheit der Bürger verstanden. In meinen Augen ist das weniger eine Frage moralischer Transparenz (z.B. im Zusammenhang mit der Korruption), sondern vielmehr ein wirklich politisches Problem, eine Frage der repräsentativen Demokratie.

Forum: Haben Sie die Erfahrungen, die Sie im Rahmen Ihrer Tätigkeit für das Kultusministerium als Vorsitzender des Nationalen Rates für die Lehrprogramme gemacht haben, hinsichtlich einer möglichen Verbesserung der Qualität der Lehre in Frankreich - vor allem im Bereich der geisteswissenschaftlichen Fächer - zuversichtlich gestimmt?

L. Ferry: Unsere Systeme an sich sind gar nicht so schlecht, sie stecken lediglich in einer schweren Autoritäts- und Legitimationskrise, die sich in manchen Bereichen in einem unbestreitbaren Niveauverlust hinsichtlich der Beherrschung der geschriebenen und gesprochenen Sprache niederschlägt. Darauf weisen alle uns zur Verfügung stehenden Untersuchungen zweifelsfrei hin. Das hängt nicht nur mit der Vermassung der Bildung zusammen, wie immer wieder, ohne recht zu überlegen, behauptet wird, ja nicht einmal mit dem Einfluss des Fernsehens - noch so einem Gemeinplatz -, sondern mit einer geistigen Krise, einem Wechsel des ethischen Paradigmas, der im übrigen gute wie schlechte Seiten aufweist, der allerdings auch seit den 60er Jahren dazu geführt hat, jedweden Gedanken an Autorität, Disziplin, Fleiss, kurzum: an alles, was seit zwei Jahrhunderten die "Pflichttugenden" geprägt hat, zu verbannen oder doch in den Hintergrund treten zu lassen. Diese radikale Infragestellung durch die 68er, da muss man ganz ehrlich sein, kann nicht spurlos an uns vorübergehen. Seitdem ich sehe, wie die Maschinerie funktioniert, fällt mir ebenfalls auf, dass die Reformkapazitäten, der Spielraum der Politiker deutlich geringer ist, als ich es mir vorgestellt habe. Wenn man Reformen möchte, ist es nicht so wichtig, gute Ideen zu haben, die doch jeder oder fast jeder hat, sondern vielmehr sie durchsetzen zu können. Ich fürchte, dass die derzeitige politische Rechnung so aussieht: Ideen zählen zu 1%, die Frage der Machbarkeit zu 99%. Ein Grund mehr, die Hände nicht in den Schoss zu legen und Unterrichtsinhalte zu erarbeiten, die sowohl anspruchsvoll als auch interessant sind. Das ist heute allerdings in manchen Bereichen noch längst nicht der Fall.

Forum: Kommt es Ihrer Ansicht nach hinreichend häufig zu einem europaweiten Gedankenaustausch bzw. zu europaweiten Debatten, um von einem wirklichen Raum des intellektuellen Austausches sprechen zu können?

L. Ferry: Nein, ein ganz klares Nein. Ein offensichtliches Anzeichen dafür ist, dass wir in den jeweiligen europäischen Ländern lediglich eine kleine Anzahl anerkannter Intellektueller kennen - manchmal nicht einmal die - und dass wir praktisch gar nichts wissen über das, was die anderen tun, oder darüber, was im Allgemeinen für das kulturelle Leben des jeweiligen Landes prägend ist. Das kann nicht normal sein.

Forum: Bevor Europa zu einem viel umjubelten grossen Einheitsmarkt geworden ist, bot es Gelegenheit zu einem fruchtbaren Kulturaustausch. Die weite Verbreitung künstlerischer Ausdrucksformen und Werke kann dafür als Beleg gelten. Lässt sich deswegen aber schon von einer "eigenen europäischen Ästhetik" sprechen?

L. Ferry: Dieser Frage habe ich ein ganzes Buch, Homo aestheticus, gewidmet. Ich will mich diesbezüglich also kurz fassen. Was Europa natürlich gekennzeichnet hat, ist das Ende des Theologisch-Kulturellen, ich will damit sagen, das Ende der Verankerung der kulturellen Erzeugnisse in religiösen Zusammenhängen. Daraus haben sich dann auch im 18. Jahrhundert die Genietheorien entwickelt, die von dem Grundsatz ausgehen, dass die Werke ausnahmslos von Menschen und für Menschen gemacht sind. Ein ästhetischer Humanismus hat sich genau zur selben Zeit herausgebildet wie ein rechtlicher, moralischer und politischer Humanismus. Deswegen konnte die europäische Kultur sich natürlich auch von seinem nur akzessorischen Charakter frei machen und über das gesamte 19. Jahrhundert an dem Abenteuer der Avantgarde teilnehmen. Allem Anschein nach erleben wir derzeit, wie sich dieses Abenteuer dem Ende neigt, und die zentrale Frage, die allerdings unbeantwortet bleiben muss, ist: was kommt "danach"?

Eigene Übersetzung des Forum



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