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• Wie man einen Autor neu erfindet
Qu'on veuille bien accepter une marche au hasard, transversale, et on sera d'un coup bien plus près de ce qui est le plus fascinant chez Balzac : non pas l'art de la réalité, transportée ou reconstruite, mais l'invention de littérature en s'appuyant sur le plus obscur du réel, ce qui, de la réalité même, n'a pas encore basculé en représentation, laissant à la littérature qui s'en saisit la première une immense capacité de suggestion, voire d'hallucination. ©2000
François BON - Schriftsteller


Frankreich ist stärker als irgendeines seiner Nachbarländer auf Geburts- und Jahrestage fixiert; daher interessiert man sich für seine Autoren nur zu festen Daten. Was nun Balzac angeht, bietet das die Gelegenheit, eine Balance wiederherzustellen, die aus dem Lot geraten ist. Wenn grosse Schriftsteller zu einer fixen Vorstellung mumifiziert sind, entfernt sie das von uns, vor allem wenn diese Vorstellung falsch, dafür aber um so hartnäckiger und widerstandsfähiger ist.

Nehmen wir zum Beispiel die jüngst erschienene kritische Balzac-Ausgabe in zwölf Bänden in der renommierten Pléiade bei Gallimard. Sämtliche Einführungen stellen an jeden der Romane, jede der Erzählungen stereotyp nur eine einzige Frage, nämlich: Welche reale Person hat für Balzac Modell gestanden? Diese Frage wird bis zur Lächerlichkeit breitgetreten (in Sachen Lebewohl, einer der verblüffendsten phantastischen Erzählungen, wird angenommen, Balzac müsse in seiner Jugend einer Verrückten begegnet sein, die in weissem Hemd durch den Wald rannte), und zugleich werden alle wesentlichen zeitgenössischen Quellen, die die Menschliche Komödie nicht nur als Kopie der Wirklichkeit, sondern als literarische Kopie sehen und so die Verbindung zu Balzac lebendig erhalten, sorgsamst ausser Acht gelassen.

Diese Quellen sind Maurice Blanchot, Julien Gracq, auf deutsch Ernst Robert Curtius und Walter Benjamin, und schliesslich, zentral, Marcel Proust, da Balzac für die Genese von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von entscheidender Bedeutung war. Lucien Dällenbach ist es zu verdanken, dass er vor drei Jahren in La canne de Balzac (Balzacs Gehstock) diese bereits angestaubten Karten neu gemischt hat.

Sind es nur interne Querelen der kleinen literarischen Szene? Es geht um mehr, da sich die Frage nach der Beschreibung der Welt stellt, nach demjenigen, was es zu durchdringen gilt, wenn die Wandlungen der Realität wieder einmal unser unmittelbares Universum an einen Ort verschoben haben, an dem das bekannte Inventar der Repräsentationen nicht mehr greift, da sich die Frage stellt, was nach diesem Sprung, bei dem die Phantasie das Kommando innehat, an Obskurem mit dem Zurückgelassenen Verbundenem, bleibt und jetzt das neue Terrain modelliert wie Wellen auf einer Flüssigkeit.

Wahrscheinlich erlauben nur Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend eine so weitgehende innere Anverwandlung eines Autors, dass man ihn später in allen Unwettern verteidigt. Bei mir ist die Sache klar, alles entstand durch einen Konflikt mit meinen Eltern. Meine Freunde arbeiteten während der Sommerferien in einer Landwirtschaftskooperative, um sich ein wenig Taschengeld zu verdienen, aber ich musste mit meiner Familie an die Küste, in die Gegend von Arcachon. Also hatte ich meinen Grossvater gebeten, seine grosse Balzac-Ausgabe in achtzehn grossen Bänden aus dem Vitrinenschrank zu nehmen und in einen Karton zu packen. Woher er selber sie hatte, ob er sie überhaupt ganz gelesen hatte - ich kam erst auf diese Fragen, als es zu spät war. Drei Wochen lang schloss ich mich mit den Bänden in eine Zimmer ein, und das war das Wunder: Die Literatur ersetzt mir die reale Welt. Ein Wunder, weil es nicht rational fassbar war, sondern einem komplexen Phänomen entsprang, einer Mischung von Fixierung, Suggestion, Unvollständigkeit.

Aus Suggestion, da die Geschichte unserer französischen Prosa von Rabelais bis Marcel Proust ein ununterbrochener Weg hin zur unmittelbaren Gegenwart ist, die Bereicherung von Sprache mit Möglichkeiten, die Welt zu benennen, über die sie bisher nicht verfügte. Und hier beschreitet Balzac eine entscheidende Etappe mit seiner gedrungenen Gestalt (ein kurzer, dicker Hals, sagte er, sei vorteilhaft, da die Ideen weniger lang brauchten, um vom Hirn in die Hand zu gelangen). Ich erinnere mich an die Wildgräser an der Gartenpforte in Eugénie Grandet. Ich erinnere mich, als wäre ich selber durch den Flur gegangen, an das Licht im alten Haus von Guérande in Beatrix oder die erzwungene Liebe. Und ebenso an die Stimme des alten Druckers und an seine Maschinen in Verlorene Illusionen.

Fixierung und Unvollständigkeit, da die scheinbare Kontinuität vom einen Buch zum anderen in Wirklichkeit das Gegenteil von Vollständigkeit bewirkt: Man weiss von einer Figur nur, was im Buch über sie steht. Das Bild von der Figur hat einen entscheidenden Schritt in Richtung Wirklichkeit getan, denn es wird zu einem Prisma, von dem wir nie sicher sein können, dass es zur Gänze sichtbar wird. D'Arthez ist mal stark, mal wird er manipuliert. Mal lenkt Gobseck das Geschehen, mal wird ihm mitgespielt. Die erneute Wiederkehr der Figuren in jedem Roman sorgt vor allem für Undurchschaubarkeit, für äusserst lokal begrenztes Wissen, und darin liegt die Anziehungskraft dieser Bücher.

Es ist ein persönlicher Glücksfall, dass ich, lange bevor mir bewusst war, was sie bedeuten konnte, mit siebzehn Jahren drei Wochen lang diese horizontale, ungeordnete Reise habe unternehmen können, bei der der Übergang von einem Buch zum anderen nie wirkliche Befriedigung verschafft, weil immer die illusionäre Hoffnung bleibt, noch ein bisschen mehr von der Wahrheit zu erfahren, wenn man noch einen Roman liest. Ich habe das jahrelang immer aufs neue wiederholt, fast wie etwas Heimliches, das man in diesen von Flaubert bestimmten Zeiten besser nicht erwähnte, in denen Balzac mit dem Etikett eines kleinen, vulgären Fettwanstes belegt war, der unfähig sei, sich von seinen Gegenständen und Manien zu lösen.

Einmal pro Jahr begab ich mich also - unter dem Vorwand, ein einziges dieser Bücher wiederlesen zu wollen - drei Wochen lang erneut auf die Irrfahrt von einem Roman der Menschlichen Komödie zum anderen, mit Hilfe einer Gesamtausgabe, einer der ersten Erwerbungen meines Erwachsenendaseins. Als ich schliesslich eine Bemerkung von Maurice Blanchot über Balzac las - „... eine Reihe von stetig, ohne Ende, mit einer Geschwindigkeit, die von der Verwicklung der Handlungsfäden immer stärker aufgehalten wird, sich fortentwickelnden Handlungssträngen, die am Ende explosionsartig in ein Drama von erschreckender Wucht münden, in dem nur noch die halizunatorische Kraft eines Geistes fortbesteht, der seinen Traum als die einzige authentische Wirklichkeit setzt" -, wurde mir klar, dass ich nicht als einziger im Besitz dieser Erkenntnis war.

Anders als Julien Gracq, der die Beschreibung von Schauplätzen, so in Beatrix, als die Wurzel dieser literarischen Illusion freilegt, anders auch als Walter Benjamin, der besonders auf die Schnelligkeit hinweist, mit der die Dinge in den Romanen Balzacs gesehen werden, der eine Wahrnehmungsgeschwindigkeit entsprechen muss, anders als sie glaube ich, dass jener undurchsichtige Panzer noch besteht. Balzac selbst hat die Statue, zu der er erstarren würde, vorgegeben, da er die Komödie einem architektonischen Prinzip folgend anlegte - zunächst mit der Absicht, Schlag auf Schlag neue Ausgaben in den Handel bringen zu können -, in dem die Etudes philosophiques eine Art Schlussstein darstellen und eine irreale Perspektive schaffen. Die jüngsten akademischen Arbeiten (beispielsweise von Stéphane Vachon) dazu solide, demystifizierende Biographien (die 1994 erschienene von Roger Pierrot ist fraglos die beste) haben unseren Blick neu orientiert, indem sie ihn auf das Kraftfeld der inneren Anlage der Menschlichen Komödie lenkten.

Mit Hilfe des Phantastischen nämlich, nicht des Realen, hat Balzac seine Bestrebungen verfolgt, die reale Welt durch eine erfundene zu ersetzen. Erst die phantastische Erzählung Das Chagrinleder wird den grossen Durchbuch des jungen Autors rechtfertigen, in dem er etwas Reales geschildert hatte (die grosse Eingangsszene mit Antiquitätengeschäft und Spielsalon, die Baudelaire selber als Wurzel seines Schreibens über die Moderne benannte). Zwischen dreissig und vierunddreissig Jahren schuf Balzac eine ganze Reihe von knappen Skizzen (der Begriff „Novelle" würde ihnen nicht gerecht, denn diese Mäander sind ebenso kraftvoll wie die Romane, sind wie deren blossgelegte Mechanik), an denen sich die Etappen seiner schnellen Weiterentwicklung ablesen lassen; heute wirken sie um so innovativer auf uns, als ihre Struktur und jeder Schritt in der Entstehung einer neuen Realität von der Funktionsweise der Phantasie selbst bestimmt wird. Diese Erzählungen sind auch aus dem Grund besonders aufschlussreich, dass Balzac sie für jede neue Ausgabe teilweise umschrieb und immer präziser werden liess. Man denke etwa an die Geschichte der Dreizehn, an Lebewohl oder an Louis Lambert.

Dennoch geht es mir hier nicht darum, eine chronologische Lektüre vorzuschlagen, das ergäbe eine blasse Karikatur der grossen literarischen Stadt, die die Menschliche Komödie ist, sondern ich möchte schlicht anregen, sich willentlich in der Topographie zu verlaufen, im Wissen, dass die später kommenden Gebirgsmassive, die grossen Romanmaschinen, nicht so fraglos in der Hierarchie über diesen kurzen Seltsamkeiten stehen, über Die grosse Bretèche, Honorine, Ein Drama am Meeresstrand oder über den gespensterhaften Künstlerfiguren, Mittelsmännern des Autors, in Das unbekannte Meisterwerk, Gambarra oder Sarrasine.

Wer einen Spaziergang auf gut Glück wagt, quer durch diese Stadt, wird dem, was Balzac so faszinierend macht, unvermittelt viel näherkommen: Nicht die Kunst der Realität, sei diese nun übertragen oder rekonstruiert, sondern die Erfindung der Literatur mit Hilfe der dunkelsten Schichten der Wirklichkeit, mit Hilfe derjenigen von ihren Anteilen, die noch nicht aus der Wirklichkeit heraus ins Darstellende gekippt sind; eine Literatur, die diese Anteile als erste zu fassen bekommt, gewinnt aus ihnen eine enorme suggestive, ja halluzinatorische Kraft. Es gibt einen Balzac, den es immer noch zu entdecken und zu erkunden gilt, der uns eine noch heute faszinierende Lektüre erlaubt, bei der wir immer wieder aufs neue von einem Buch in das nächste verwiesen werden; einen Balzac, der uns in seiner erfundenen Welt gefangen nimmt, im Traum aller Literatur, ganz wie jene alten chinesischen Maler, die sich selber von hinten auf ihren Bilder zeigen, wie sie in den Bildhintergrund wandern, immer tiefer in die von ihnen geschaffene Landschaft hinein. Traduction : H. Schmidt-Henkel

Eigene Übersetzung des Forum


Veröffentlichungen

- La méthode de Tramelan, chemins et propositions pour l'atelier d'écriture -à paraître en septembre 2000 .
- Impatience - Ed. de Minuit, 1998.
- Dehors est la ville - Flohic "Musées Secrets", 1998.
- L'enterrement - rééd. Gallimard "Folio" 98.
- Le crime de Buzon - Ed. de Minuit, 1986.
- Limite - Ed. de Minuit, 1985.
- Sortie d'usine - Ed. de Minuit, 1982.

Veröffentlichungen auf deutsch
- Manholt Verlag, Bremen et Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt. : Sortie d'usine, Limite, Le crime de Buzon, l'Enterrement. http://www.fbon.fr.fm



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