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• Balzac-Lektüren…
Hier eine kleine Auswahl an Dichtern und Denkern, die Teil einer langen Liste all jener sind, die überall auf der Welt das Werk Balzacs kommentiert haben. Die Auszüge, die wir in unserem Dossier abdrucken, scheinen uns charakteristisch zu sein für die Werkrezeption sowohl seitens französischer als auch deutschsprachiger Autoren. Eine Auswahl zu treffen, bedeutet allerdings immer auch jene beiseite zu lassen, die nicht aufgenommen werden konnten, deren Zeugnis deswegen aber nicht weniger interessant ist: Marcel Proust, Emile Zola, Alain, Maurice Blanchot, Claude Roy, Julien Gracq, Ernst Robert Curtius ou Walter Benjamin u.v.a.m. Um ihre Beobachtungen zu Balzac vollständig oder auch nur teilweise zusammenzutragen, bedürfte es eines eigenständigen Bandes. ©2000
BALZAC-Lektüren …Victor HUGO, Charles BAUDELAIRE, Hugo von HOFMANNSTHAL, Stefan ZWEIG, Michel BUTOR


Auch wenn die beiden Künstler sich sonst in allen wesentlichen Punkten voneinander unterschieden, ist auch Balzac ähnlich wie Goethe Teil der europäischen Kultur. Bereits zu seinen Lebzeiten war er einer der berühmtesten Schriftsteller Europas. Zwar hat er Goethe nicht persönlich kennengelernt, doch hat dieser manche seiner Werke gelesen, darunter auch seinen Roman Chagrinleder, den er in seinem Tagebuch als "vortreffliches Werk neuster Art" und als "Produkt eines ganz vorzüglichen Geistes" bezeichnet hat (10./12. Okt. 1831). Dieses Lob ist umso überraschender als Goethe den Schriftstellern seiner Zeit eher zurückhaltend gegenüber stand.
Das Deutsch-Französische Forum möchte im Anschluß an die Jubiläumsfeiern der letzten Monate noch einmal die Aufmerksamkeit auf diesen herausragenden Schriftsteller lenken, dessen kraftvoller Charakter ein mächtiges Werk geschaffen hat. Wir verfolgen mit diesem Ziel keineswegs die Absicht, den Schriftsteller und sein Werk in all seinen vielfältigen Facetten darzustellen, sondern möchten einfach einige der Aspekte hervorheben, die uns als kennzeichnend erschienen bzw. die unser persönliches Interesse geweckt haben.

… Victor HUGO

Es ist hier nicht der Ort, um im Einzelnen auszuführen, was dieser glänzende und überragende Geist war. All seine Bücher bilden ein einziges, lebendiges, hell strahlendes, tief schürfendes Buch, in dem man unsere gesamte Zivilisation verfolgt, wie sie kommt und geht, wie sie vorwärtsstrebt und sich bewegt mit unbestimmbarem Schrecken und Schrecknis, das dem Wirklichen beigemischt ist; ein wundervolles Buch, das der Dichter Komödie betitelt hat, das er aber auch Geschichte hätte nennen können; ein Buch, das alle Formen und Stile annimmt, das Tacitus übertrifft und das an Sueton heranreicht, ein Buch, das Beaumarchais durchstreift und bis zu Rabelais führt; ein Buch der Beobachtung und der Phantasie, das von Wahrem, Intimem, Bürgerlichem, Alltäglichem und Materiellem durchdrungen ist … Ob er will oder nicht, ob ihm das recht ist oder nicht, der Autor dieses riesigen und fremdartigen Werkes hat, ohne es zu wissen, die Kraft revolutionärer Schriftsteller. Balzac geht geradewegs aufs Ziel zu: er packt sich die moderne Gesellschaft; allen entreißt er etwas, den einen ihre Illusionen, den anderen die Hoffnung, jenen einen Schrei, diesen ihre Maske. Er erforscht und taucht ab in den Menschen, in die Seele, das Herz, das Hirn, und dank eines Zuges seines kraftvollen und unbändigen Charakters macht er sich lächelnd und heiter frei von diesen gefährlichen Studien, die bei Molière zur Melancholie, bei Rousseau zur Misanthropie führten.


… Charles BAUDELAIRE

Wenn Balzac diese niedere Gattung [den Roman] zu etwas Bewundernswertem, zu etwas stets Interessantem und oftmals Erhabenem gemacht hat, dann weil er mit seinem gesamten (Da)Sein daran beteiligt war. Wie oft habe ich darüber gestaunt, daß Balzacs Ruhm darin bestanden haben soll, als ein Beobachter zu gelten; mir war es stets vorgekommen, als läge sein hauptsächliches Verdienst darin, Visionär zu sein, ein leidenschaftlicher Visionär. All seine Figuren sind mit einer Lebensgier begabt, von der auch er beseelt war. All seine Erfindungen sind von ebenso tiefer Farbkraft wie Träume. Von den Höhen der Aristokratie bis herab in die Gosse des Gesindels giert es alle Akteure der Komödie nach Leben, sie sind tätiger und gerissener im Kampf, geduldiger im Unglück, im Vergnügen geifernder und in der Hingabe engelsruhiger, als sie uns die Komödie der wirklichen Welt zeigt. Kurzum: bei Balzac ist jeder mit Genie begabt, selbst die Pförtner. Jede Seele ist eine willensgeladene, scharfe Waffe. Ganz wie Balzac selbst. Und weil sich all die Wesen der Außenwelt seinem geistigen Auge mit mächtigem Relief und ergreifendem Ausdruck darboten, hat er seine Gestalten verzerrt. Ihre Schatten hat er verdüstert und erleuchtet ihre Klarheit. Seine ausgeprägte Vorliebe fürs Detail, die mit dem maßlosen Ehrgeiz in Zusammenhang steht, alles sehen, alles darstellen, alles erfassen und alles erfassen lassen zu wollen, nötigte ihn denn auch dazu, die Hauptlinien stärker zu zeichnen, um die Gesamtsicht zu gewährleisten. Manchmal erinnert er mich an jene Kupferstecher, denen der Ätzgrund nie tief genug sein kann und die die wichtigsten Ritzlinien auf der Kupferplatte zu Gräben vertiefen. Aus dieser erstaunlichen, natürlichen Veranlagung sind wahre Wunderwerke hervorgegangen. Doch wird diese Veranlagung gewöhnlich als Fehler Balzacs bezeichnet. Um es besser auszudrücken: gerade darin bestehen seine Qualitäten. Wer dürfte sich rühmen, mit einem solchen glücklichen Talent gesegnet zu sein und eine Methode nicht anwenden zu können, mit der sich reine Trivialität ausnahmslos in Licht und Purpur kleiden läßt? Wer könnte dies? Wer gerade das nicht tut, tut eigentlich nicht eben viel.


… Hugo von HOFMANNSTHAL

Hier ist eine Welt, wimmelnd von Gestalten. Es ist keine darunter, die so gewaltig empfangen, so vollständig in sich selber, gelöst von ihrem Hintergrund, für sich allein zu bestehen vermöchte, in der unvergänglichen Vollständigkeit ihrer Geste, wie Don Quixote, wie der König Lear, wie Odysseus. Die Materie ist brüchiger, die Vision ist nicht von so strahlender Klarheit, dass Gestalten aus ihr hervorgehen könnten, so modelliert im reinsten, stärksten Licht, wie der Homerische Achilles, wie Nausikaa, oder im zartesten Halblicht, wie Mignon und Ottilie. Alles hängt zusammen, alles bedingt sich. Es ist bei ihm so unmöglich, das Einzelne herauszulösen, wie aus einem Gemälde von Rembrandt oder von Delacroix. Hier wie dort liegt das Grossartige in einem stupenden Reichtum der Tonwerte, der ab und auf, infinis modis, wie die Natur selber, eine lückenlose Skala ergibt. Jene Gestalten dort scheinen gelöste schreitende Götter: wie sie entstanden sein mögen, ist undurchdringliches Geheimnis; diese sind einzelne Noten einer titanischen Symphonie. Ihre Entstehung scheint uns begreiflicher, wir glauben in unserem Blut die Elemente zu tragen, aus denen ihre finsteren Herzen gebildet sind, und mit der Luft der grossen Städte sie einzusaugen.

Aber auch hier waltet ein Letztes, Höheres. Wie die Skala von Finsternis zur Helligkeit auf einem Rembrandt nur darin dem irdischen Licht und der irdischen Finsternis gleicht, dass sie lückenlos, überzeugend, absolut richtig ist: aber darüber hinaus ein Namenloses in ihr wirksam ist, das Walten einer grossen Seele, die in jenen Visionen selber sich einem höchsten Wesen hingibt, so vibriert hier in den Myriaden kleiner Züge, mit denen eine wimmelnde Welt hingemalt ist, ein kaum zu nennendes Letztes: die Plastik dieser Welt geht bis zum Überschweren, ihre Finsternis bis zum Nihilismus, die Weltlichkeit in der Behandlung bis zum Zynischen: aber die Farben, mit denen dies gemalt ist, sind rein. Mit nicht reinerem Pinsel ist ein Engelschor des Fra Angelico gemalt als die Figuren in Cousine Bette. Diesen Farben, den eigentlichen Grundelementen des Seelischen, haftet nichts Trübes an, nichts Kränkelndes, nichts Blasphemisches, nicht Niedriges. Sie sind unerweislich, von keinem bösen Hauch zu kränken. Eine absolute Freudigkeit vibriert in ihnen, die unberührt ist von der Finsternis des Themas, wie die göttliche Freudigkeit der Töne in einer Beethovenschen Symphonie in keinem Moment von der Furchtbarkeit des musikalischen Ausdrucks verstört werden kann.


… Stefan ZWEIG

Nicht umsonst hat Balzac die Chemie geliebt, die Werke Cuviers, Lavoisiers studiert. Denn in diesem vielfältigen Prozess der Aktionen und Reaktionen, der Affinitäten, der Abstossungen und Anziehungen, Ausscheidungen und Gliederungen, Zersetzungen und Kristallisierungen, in der atomhaften Vereinfachung des Zusammensetzens schien ihm deutlicher als anderswo das Bild der sozialen Zusammensetzung gespiegelt zu sein. Dass jedes Individuum ein Produkt sei, geformt von Klima, Milieu, Sitten, Zufall, von all dem, was schicksalsträchtig an ihm rührt, dass jedes Individuum seine Wesenheit aus einer Atmosphäre sauge, um selbst wieder eine neue Atmosphäre zu entstrahlen - dieses universelle Bedingtsein von In- und Umwelt war ihm Axiom. Und diesen Abdruck des Organischen im Unorganischen, und die Griffspuren des Lebendigen im Begrifflichen wieder, diese Summierung eines momentanen geistigen Besitzes im sozialen Wesen, die Produkte ganzer Epochen aufzuzeichnen, schien ihm höchste Aufgabe des Künstlers. Alles fliesst ineinander, alle Kräfte sind in Schwebe und keine frei.

Ein so begrenzter Relativismus hat jede Kontinuität, selbst die des Charakters geleugnet. Balzac hat seine Menschen immer an den Ereignissen sich formen lassen, sich modellieren wie Ton in der Hand des Schicksals. Selbst die Namen seiner Menschen umspannen einen Wandel und kein Einheitliches. Durch zwanzig der Bücher Balzacs geht der Baron von Rastignac, Pair von Frankreich. Man glaubt ihn schon zu kennen, von der Strasse her, oder vom Salon, oder von der Zeitung, diesen rücksichtslosen Arrivierten, diesen Prototyp eines brutalen pariserischen unbarmherzigen Strebers, der aalglatt durch alle Schlupfwinkel der Gesetze sich durchdrückt und die Moral einer verkommenen Gesellschaft meisterhaft verkörpert. Aber da ist ein Buch, in dem lebt auch ein Rastignac, der junge arme Edelmann, den seine Eltern nach Paris schicken mit viel Hoffnungen und wenig Geld, ein weicher, sanfter, bescheidener, sentimentaler Charakter. Und das Buch erzählt, wie er in die Pension Vauquer gerät, in jenen Hexenkessel von Gestalten, in eine jener genialen Verkürzungen, wo Balzac in vier schlecht tapezierte Wände die ganze Lebensvielfalt der Temperamente und Charaktere einschliesst, und hier sieht er die Tragödie des ungekannten König Lear, des Vaters Goriot, sieht, wie die Flitterprinzessinnen des Faubourg Saint Germain gierig den alten Vater bestehlen, sieht alle Niedertracht der Gesellschaft, gelöst in eine Tragödie.

Und da, wie er endlich dem Sarge des allzu Gütigen folgt, allein mit einem Hausknecht und einer Magd, wie er in zorniger Stunde Paris schmutziggelb und trüb wie ein böses Geschwür von den Höhen des Père-Lachaise zu seinen Füssen sieht, da weiss er alle Weisheit des Lebens. In diesem Moment hört er die Stimme Vautrins, des Sträflings, in seinem Ohr aufklingen, seine Lehre, dass man Menschen wie Postpferde behandeln müsse, sie vor seinem Wagen hetzen und dann krepieren lassen am Ziel, in dieser Sekunde wird er der Baron von Rastignac der anderen Bücher, der rücksichtslose, unerbittliche Streber, der Pair von Paris.

Und diese Sekunde am Kreuzweg des Lebens erleben alle Helden Balzacs. Sie alle werden Soldaten im Kriege aller gegen alle, jeder stürmt vorwärts, über die Leiche des einen geht der Weg des andern. Dass jeder seinen Rubikon, sein Waterloo hat, dass die Gleichen Schlachten sich in Paläste, Hütten und Tavernen liefern, zeigt Balzac, und dass unter den abgerissenen Kleidern, Priester, Ärzte, Soldaten, Advokaten die gleichen Triebe bekunden, das weiss sein Vautrin, der Anarchist, der die Rollen aller spielt und in zehn Verkleidungen in den Büchern Balzacs auftritt, immer aber derselbe und bewusst derselbe. Unter der nivellierten Oberfläche des modernen Lebens wühlen die Kämpfe unterirdisch weiter. Denn der äusseren Egalisierung wirkt der innere Ehrgeiz entgegen. Da keinem ein Platz reserviert ist wie einst dem König, dem Adel, den Priestern, da jeder ein Anrecht auf alle hat, so verzehnfacht sich ihre Anspannung. Die Verkleinerung der Möglichkeiten äussert sich im Leben als Verdoppelung der Energie.

Gerade dieser mörderische und selbstmörderische Kampf der Energien ist es, der Balzac reizt. Die an ein Ziel gewandte Energie als Ausdruck des bewussten Lebenswillen ist seine Leidenschaft. Ob sie gut oder böse, wirkungskräftig oder verschwendet bleibt, ist ihm gleichgültig, sobald sie nur intensiv wird. Intensität, Wille ist alles, weil dies dem Menschen gehört, Erfolg und Ruhm nichts, denn ihn bestimmt der Zufall.


… Michel BUTOR

Das Prinzip der wiederkehrenden Figuren ist also zuerst ein Prinzip der Sparsamkeit, aber seine Konsequenzen werden die Natur der narrativen Arbeit selbst verändern. Jedes einzelne Werk wird sich zu anderen Werken hin öffnen, die Figuren, die in diesem oder jenem Roman auftauchen, sind darin nicht gefangen, sie verweisen auf andere Romane, in denen wir zusätzliche Informationen über sie finden. In jedem einzelnen Baustein dieses Ganzen wird uns in bezug auf diese oder jene Figur lediglich mitgeteilt, was an Kenntnissen für ein oberflächliches Verständnis der vorliegenden Handlung unabdingbar ist; dank der Lektüre der anderen Bücher, in denen eben jene Figuren auftauchen, haben wir allerdings die Möglichkeit, weiterzugehen, so daß sich Aufbau und Tragweite dieses oder jenes isolierten Romans ändert, je nach dem wie viele andere Romane wir gelesen haben; eine Geschichte, die uns bei unserer ersten Lektüre, als wir von der Balzacschen Welt noch nichts wußten, linear und ein wenig simpel erschienen war, erweist sich später als Schnittstelle eines ganzen Bündels von Themen, die bereits anderswo vertieft worden waren. Folglich stehen wir vor einer Reihe von Facetten, die miteinander verbunden sind und zwischen denen wir uns ergehen können. Es handelt sich um das, was man ein narratives "Mobile" nennen könnte, um ein aus einer bestimmten Anzahl von Teilen bestehendes Ganzes, dem wir uns fast in der uns gefälligsten Reihenfolge nähern können. Jeder Leser durchschreitet das Universum der Menschlichen Komödie auf einem je anderen Wege. Es ist wie eine Sphäre oder eine Umgrenzung mit vielen Türen.

Eigene Übersetzung des Forum



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