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• Eine europäische Sozialpolitik ?
Perspektiven einer europäischen Sozial- und Beschäftigungspolitik
Europäische Integration darf nicht zu einer reinen wirtschaftlichen Union führen. Gerade die deutschen Gewerkschaften haben immer ergänzend zur „Währungs- und Wirtschaftsunion" auch die Schaffung einer „Wertegemeinschaft", die Menschenrechte, Freiheitsrechte und soziale Rechte umfaßt, gefördert. Dies sollte die Grundlage des europäischen Gesellschafts- und Sozialmodells sein. Diese Vorstellungen sind mit der Hoffnung verbunden, auf diesem Weg für die Menschen in Europa bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu erreichen. © 1999
Hubertus SCHMOLDT - Vorsitzender der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, Hannover


Die europäischen Staaten waren schon lange vor dem Zusammenschluss in der EU Sozialstaaten. Seit dem 19. Jahrhundert werden soziale Lebensrisiken, wie Alter, Krankheit und Unfallfolgen, in staatlicher Verantwortung abgesichert. Es ist also eine gemeinsame europäische Tradition, Bürgerrechte und soziale Rechte miteinander zu verbinden.

Dennoch hat die Sozialpolitik in der EU zunächst keine grosse Rolle gespielt. Erst 1989 haben die Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft durch Verabschiedung einer Sozialcharta deutlich gemacht, dass bis dahin die sozialpolitischen Aktivitäten nicht ausreichend waren.

Die Sozialcharta ist wesentlich aufgrund gewerkschaftlichen Drucks entstanden. Für die Gewerkschaften hat immer festgestanden, dass der europäische Einigungsprozess ohne die soziale Komponente nicht vollendet werden kann.

Europäische Integration darf nicht zu einer reinen wirtschaftlichen Union führen. Gerade die deutschen Gewerkschaften haben immer ergänzend zur „Währungs- und Wirtschaftsunion" auch die Schaffung einer „Wertegemeinschaft", die Menschenrechte, Freiheitsrechte und soziale Rechte umfasst, gefördert. Dies sollte die Grundlage des europäischen Gesellschafts- und Sozialmodells sein. Diese Vorstellungen sind mit der Hoffnung verbunden, auf diesem Weg für die Menschen in Europa bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu erreichen.

Diese Politik hat in der Vergangenheit immer wieder punktuelle Fortschritte gebracht: So wurde im Europa-Parlament 1995 als sozialpolitische Zielsetzung beschlossen, die „Sozialpolitik sollte ein Schlüsselbereich der Zuständigkeit der EU sein und besser in die Wirtschaftspolitik als Ganzes integriert werden".

Heute haben mehrere Regierungen von Mitgliedsstaaten die Beschäftigungspolitik zu einem zentralen Thema der europäischen Sozialpolitik erklärt. Auch nach Auffassung der Gewerkschaften ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine vordringliche Aufgabe der Europäischen Union, weil das die Grundvoraussetzung für den Erhalt der sozialen Sicherungssysteme ist. Nur wenn in den Staaten der EU ein Abbau der Arbeitslosigkeit erreicht wird, können die sozialen Sicherungssysteme weiter finanziert werden. Auch aus diesem Grunde muss die Beschäftigungspolitik in den Mittelpunkt europäischer Massnahmen - einschliesslich der Wirtschaftspolitik - gerückt werden. Dabei sollte die Arbeitsmarktpolitik künftig auf europäischer Ebene initiiert und koordiniert werden.

Für eine erfolgreiche europäische Sozialpolitik sind soziale Mindeststandards ein entscheidendes Instrument. Die deutschen Gewerkschaften im DGB haben dazu Vorschläge für die Bereiche Arbeitsbedingungen, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Arbeitnehmerrechte im Betrieb und Freizügigkeit erarbeitet.

Soziale Mindeststandards hält der DGB in folgenden Sachbereichen für notwendig:

Arbeitsbedingungen

- Arbeits- und sozialrechtliche Gleichstellung von Beschäftigten in atypischen Arbeitsverhältnissen (befristete Arbeit, Leiharbeit u.a.),

- individueller Kündigungsschutz,

- Novellierung der Arbeitszeitrichtlinie mit dem Ziel der Verringerung der Höchstarbeitszeit von 48 auf 44 Wochenstunden,

- Aufnahme von Sozialklauseln in die Richtlinie über die Vergabe öffentlicher Aufträge,

- Entgeltfortzahlung an Feiertagen und im Krankheitsfall,

- arbeits- und sozialrechtliche Absicherung der Telearbeit,

- Einrichtung einer flächendeckenden, unentgeltlichen öffentlichen Berufsberatung und Arbeitsvermittlung,

- Regelung der Zusammenarbeit der Behörden bei grenzüberschreitender Leiharbeit,

- Recht auf Zugang zur beruflichen Weiterbildung für alle Arbeitnehmerinnen und Regelung der Bedingungen.

Arbeits- und Gesundheitsschutz

- Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zum Aufbau leistungsstarker Kapazitäten zur Umsetzung des Arbeitsschutzrechts

- Richtlinie über Ansprüche der Arbeitnehmer gegenüber staatlichen oder sonstigen öffentlich-rechtlichen Stellen zur Ergreifung präventiver Massnahmen

- Schutz der Gesundheit vor Gefährdungen durch physikalische Agenzien (insbesondere durch Vibrationen, elektromagnetische Felder, optische Strahlung, Hitze, Kälte und Druckluft)

- EU-weites absolutes Verbot der Exposition von Arbeitnehmern gegenüber Asbestfasern (einschliesslich strenger Vorschriften für Abbruch- und Sanierungsarbeiten, bei denen Asbestfasern frei werden können)

- EU-Richtlinie über Berufskrankheiten und ihnen gleichzustellende Erkrankungen (präventive Vorschriften und EU-Liste von Berufskrankheiten)

Arbeitnehmerrechte im Betrieb

- Benachteiligungsverbot für Arbeitnehmer, die ihre Rechte wahrnehmen und sich gewerkschaftlich betätigen,

- Recht auf Versammlungen im Betrieb unter Berücksichtigung betrieblicher Belange,

- Ausdehnung der EBR-Richtlinie auf Unternehmen unter 1000 Beschäftigte und Schaffung wirksamer Sanktionsmassnahmen,

- Veröffentlichungspflichten der Unternehmen im sozialen Bereich (Sozialbilanzen),

- Schutz von personenbezogenen und -beziehbaren Arbeitnehmerdaten im Betrieb,

- Informations- und Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen einschliesslich Reklamationsrechte,

- Recht der Arbeitnehmer auf Anhörung in betrieblichen Angelegenheiten, die ihre Person betreffen,

- Recht der Arbeitnehmervertretungen auf Information und Mitbestimmung in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten.

Freizügigkeit

- Gleichbehandlung von Arbeitskräften aus Drittstaaten, die sich legal in der Gemeinschaft aufhalten,

- Absicherung weiterer Sozialleistungen (z.B. Pflegeleistungen) im Rahmen der Verordnung über die soziale Sicherheit von Wanderarbeitnehmern.

Bei der Umsetzung dieser Vorschläge ist gewährleistet, dass die sozialen Errungenschaften der in sozialen Angelegenheiten weiter entwickelten Staaten erhalten bleiben und gleichzeitig auch Vorteile für die Menschen in ärmeren Ländern gesichert werden.

Dabei besteht auch weitgehend Einigkeit, dass auf absehbare Zeit die unterschiedlichen Sozialsysteme der europäischen Staaten nebeneinander bestehen bleiben.

Gegenwärtig stehen die sozialen Sicherungssysteme der Länder der EG fast alle vor den gleichen grossen Problemen: Einerseits sind sie von der akuten Finanznot und den damit verbundenen Sparmassnahmen aller Staaten betroffen. Zum anderen stehen sie vor schwierigen gesellschaftlichen Herausforderungen, die mit der demographischen Entwicklung zusammenhängen. Die Arbeits- und Sozialbedingungen sind vom Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft geprägt. Neue Beschäftigungsstrukturen, wie Tele-, Heimarbeit, Teilzeitarbeit, vermehrte Selbständigkeit sowie grenzüberschreitende Beschäftigungen wirken sich auf die soziale Sicherheit aus und führen dazu, dass Schutzbestimmungen infrage gestellt werden. Für die sozialen Sicherungssysteme sind allerdings die damit verbundenen fallenden Beitragszahlungen besonders nachteilig.

Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft durch die osteuropäischen Staaten bringt grössere Heterogenität in die europäische Sozialpolitik und damit auch mehr Druck auf die Sozialstandards der „alten Mitglieder". Deshalb müssen auch für die Neumitglieder der Europäischen Gemeinschaft die geforderten sozialen Mindeststandards gelten.

Die unterschiedlichen sozialen Systeme der europäischen Länder, die lange Traditionen haben, sollten nach unserer Meinung zunächst erhalten bleiben. Die zentralen Bereiche der sozialen Sicherheit bleiben somit auch künftig in der Zuständigkeit der Nationalstaaten. Eine Vereinheitlichung der sozialen Leistungen und Systeme ist momentan nicht machbar und die Gewerkschaften halten es auch nicht für erstrebenswert.

In dieser Vielfalt der Systeme müssen aber arbeits- und sozialrechtliche Absicherungen europaweit festgeschrieben werden. Der solidarisch geprägte Sozialschutz muss integraler Bestandteil des europäischen Gesellschaftsmodells werden.



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