Die europäischen
Staaten waren schon lange vor dem Zusammenschluss in der EU Sozialstaaten.
Seit dem 19. Jahrhundert werden soziale Lebensrisiken, wie Alter,
Krankheit und Unfallfolgen, in staatlicher Verantwortung abgesichert.
Es ist also eine gemeinsame europäische Tradition, Bürgerrechte
und soziale Rechte miteinander zu verbinden.
Dennoch hat
die Sozialpolitik in der EU zunächst keine grosse Rolle gespielt.
Erst 1989 haben die Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft durch Verabschiedung
einer Sozialcharta deutlich gemacht, dass bis dahin die sozialpolitischen
Aktivitäten nicht ausreichend waren.
Die Sozialcharta
ist wesentlich aufgrund gewerkschaftlichen Drucks entstanden. Für
die Gewerkschaften hat immer festgestanden, dass der europäische
Einigungsprozess ohne die soziale Komponente nicht vollendet werden
kann.
Europäische
Integration darf nicht zu einer reinen wirtschaftlichen Union führen.
Gerade die deutschen Gewerkschaften haben immer ergänzend zur
Währungs- und Wirtschaftsunion" auch die Schaffung
einer Wertegemeinschaft", die Menschenrechte, Freiheitsrechte
und soziale Rechte umfasst, gefördert. Dies sollte die Grundlage
des europäischen Gesellschafts- und Sozialmodells sein. Diese
Vorstellungen sind mit der Hoffnung verbunden, auf diesem Weg für
die Menschen in Europa bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu
erreichen.
Diese Politik
hat in der Vergangenheit immer wieder punktuelle Fortschritte gebracht:
So wurde im Europa-Parlament 1995 als sozialpolitische Zielsetzung
beschlossen, die Sozialpolitik sollte ein Schlüsselbereich
der Zuständigkeit der EU sein und besser in die Wirtschaftspolitik
als Ganzes integriert werden".
Heute haben
mehrere Regierungen von Mitgliedsstaaten die Beschäftigungspolitik
zu einem zentralen Thema der europäischen Sozialpolitik erklärt.
Auch nach Auffassung der Gewerkschaften ist die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit eine vordringliche Aufgabe der Europäischen
Union, weil das die Grundvoraussetzung für den Erhalt der sozialen
Sicherungssysteme ist. Nur wenn in den Staaten der EU ein Abbau
der Arbeitslosigkeit erreicht wird, können die sozialen Sicherungssysteme
weiter finanziert werden. Auch aus diesem Grunde muss die Beschäftigungspolitik
in den Mittelpunkt europäischer Massnahmen - einschliesslich
der Wirtschaftspolitik - gerückt werden. Dabei sollte die Arbeitsmarktpolitik
künftig auf europäischer Ebene initiiert und koordiniert
werden.
Für eine
erfolgreiche europäische Sozialpolitik sind soziale Mindeststandards
ein entscheidendes Instrument. Die deutschen Gewerkschaften im DGB
haben dazu Vorschläge für die Bereiche Arbeitsbedingungen,
Arbeits- und Gesundheitsschutz, Arbeitnehmerrechte im Betrieb und
Freizügigkeit erarbeitet.
Soziale Mindeststandards
hält der DGB in folgenden Sachbereichen für notwendig:
Arbeitsbedingungen
- Arbeits-
und sozialrechtliche Gleichstellung von Beschäftigten in atypischen
Arbeitsverhältnissen (befristete Arbeit, Leiharbeit u.a.),
- individueller
Kündigungsschutz,
- Novellierung
der Arbeitszeitrichtlinie mit dem Ziel der Verringerung der Höchstarbeitszeit
von 48 auf 44 Wochenstunden,
- Aufnahme
von Sozialklauseln in die Richtlinie über die Vergabe öffentlicher
Aufträge,
- Entgeltfortzahlung
an Feiertagen und im Krankheitsfall,
- arbeits-
und sozialrechtliche Absicherung der Telearbeit,
- Einrichtung
einer flächendeckenden, unentgeltlichen öffentlichen Berufsberatung
und Arbeitsvermittlung,
- Regelung
der Zusammenarbeit der Behörden bei grenzüberschreitender
Leiharbeit,
- Recht auf
Zugang zur beruflichen Weiterbildung für alle Arbeitnehmerinnen
und Regelung der Bedingungen.
Arbeits-
und Gesundheitsschutz
- Verpflichtung
der Mitgliedsstaaten zum Aufbau leistungsstarker Kapazitäten
zur Umsetzung des Arbeitsschutzrechts
- Richtlinie
über Ansprüche der Arbeitnehmer gegenüber staatlichen
oder sonstigen öffentlich-rechtlichen Stellen zur Ergreifung
präventiver Massnahmen
- Schutz der
Gesundheit vor Gefährdungen durch physikalische Agenzien (insbesondere
durch Vibrationen, elektromagnetische Felder, optische Strahlung,
Hitze, Kälte und Druckluft)
- EU-weites
absolutes Verbot der Exposition von Arbeitnehmern gegenüber
Asbestfasern (einschliesslich strenger Vorschriften für Abbruch-
und Sanierungsarbeiten, bei denen Asbestfasern frei werden können)
- EU-Richtlinie
über Berufskrankheiten und ihnen gleichzustellende Erkrankungen
(präventive Vorschriften und EU-Liste von Berufskrankheiten)
Arbeitnehmerrechte
im Betrieb
- Benachteiligungsverbot
für Arbeitnehmer, die ihre Rechte wahrnehmen und sich gewerkschaftlich
betätigen,
- Recht auf
Versammlungen im Betrieb unter Berücksichtigung betrieblicher
Belange,
- Ausdehnung
der EBR-Richtlinie auf Unternehmen unter 1000 Beschäftigte
und Schaffung wirksamer Sanktionsmassnahmen,
- Veröffentlichungspflichten
der Unternehmen im sozialen Bereich (Sozialbilanzen),
- Schutz von
personenbezogenen und -beziehbaren Arbeitnehmerdaten im Betrieb,
- Informations-
und Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen
einschliesslich Reklamationsrechte,
- Recht der
Arbeitnehmer auf Anhörung in betrieblichen Angelegenheiten,
die ihre Person betreffen,
- Recht der
Arbeitnehmervertretungen auf Information und Mitbestimmung in sozialen,
personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten.
Freizügigkeit
- Gleichbehandlung
von Arbeitskräften aus Drittstaaten, die sich legal in der
Gemeinschaft aufhalten,
- Absicherung
weiterer Sozialleistungen (z.B. Pflegeleistungen) im Rahmen der
Verordnung über die soziale Sicherheit von Wanderarbeitnehmern.
Bei der Umsetzung
dieser Vorschläge ist gewährleistet, dass die sozialen
Errungenschaften der in sozialen Angelegenheiten weiter entwickelten
Staaten erhalten bleiben und gleichzeitig auch Vorteile für
die Menschen in ärmeren Ländern gesichert werden.
Dabei besteht
auch weitgehend Einigkeit, dass auf absehbare Zeit die unterschiedlichen
Sozialsysteme der europäischen Staaten nebeneinander bestehen
bleiben.
Gegenwärtig
stehen die sozialen Sicherungssysteme der Länder der EG fast
alle vor den gleichen grossen Problemen: Einerseits sind sie von
der akuten Finanznot und den damit verbundenen Sparmassnahmen aller
Staaten betroffen. Zum anderen stehen sie vor schwierigen gesellschaftlichen
Herausforderungen, die mit der demographischen Entwicklung zusammenhängen.
Die Arbeits- und Sozialbedingungen sind vom Übergang von der
Industrie- zur Informationsgesellschaft geprägt. Neue Beschäftigungsstrukturen,
wie Tele-, Heimarbeit, Teilzeitarbeit, vermehrte Selbständigkeit
sowie grenzüberschreitende Beschäftigungen wirken sich
auf die soziale Sicherheit aus und führen dazu, dass Schutzbestimmungen
infrage gestellt werden. Für die sozialen Sicherungssysteme
sind allerdings die damit verbundenen fallenden Beitragszahlungen
besonders nachteilig.
Die Erweiterung
der Europäischen Gemeinschaft durch die osteuropäischen
Staaten bringt grössere Heterogenität in die europäische
Sozialpolitik und damit auch mehr Druck auf die Sozialstandards
der alten Mitglieder". Deshalb müssen auch für
die Neumitglieder der Europäischen Gemeinschaft die geforderten
sozialen Mindeststandards gelten.
Die unterschiedlichen
sozialen Systeme der europäischen Länder, die lange Traditionen
haben, sollten nach unserer Meinung zunächst erhalten bleiben.
Die zentralen Bereiche der sozialen Sicherheit bleiben somit auch
künftig in der Zuständigkeit der Nationalstaaten. Eine
Vereinheitlichung der sozialen Leistungen und Systeme ist momentan
nicht machbar und die Gewerkschaften halten es auch nicht für
erstrebenswert.
In dieser Vielfalt
der Systeme müssen aber arbeits- und sozialrechtliche Absicherungen
europaweit festgeschrieben werden. Der solidarisch geprägte
Sozialschutz muss integraler Bestandteil des europäischen Gesellschaftsmodells
werden.
|