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• Das deutsch-französische Gespann : ein neuer Elan für Europa ?
Zur Schaffung stabiler Arbeitsplätze hat man bei unseren Nachbarn seit langem auf die Markwirtschaft vertraut. Außerdem steht man dort in einer langen Tradition des Sozialdialogs, der den Sozialpartnern eigenständiges Entscheiden ermöglicht. In dieser Reife liegt eine der großen Stärken des rheinischen Modells. Der internationale Kontext hat sich allerdings verändert. Die Globalisierung bringt Erfordernisse mit sich, über die Franzosen wie Deutsche unausweichlich gemeinsam nachdenken müssen. © 1999
Jacques BARROT - Abgeordneter der Nationalversammlung Ehem. Arbeitsminister


Wieder einmal spielt das deutsch-französische Gespann eine massgebliche Rolle für ein europäisches Sozialmodell. Auf dem Wiener Treffen wurde die Notwendigkeit erkannt, einen europäischen Stabilitätspakt für Beschäftigung zu begründen. Als Zeichen der Zeit fällt gerade Deutschland zusammen mit der ersten Europäischen Ratspräsidentschaft nach Einführung des Euro auch die grosse zweifache Verantwortung zu, sowohl den neuen Kampf für Beschäftigung als auch jene neue Strategie auf die Bahn zu bringen, die die Solidarität zwischen den europäischen Ländern sicherstellen soll.

Frankeich hat sowohl durch Jacques Chirac als auch durch seine Regierung seinem Wunsch Ausdruck verliehen, den währungspolitischen Stabilitätspakt um einen beschäftigungspolitischen zu ergänzen. Dieser darf sich allerdings nicht darauf beschränken, punktuelle Massnahmen mit sporadischen Finanzanreizen zur Beschäftigung zu verkünden. Nach langjährigen Versuchen hat Frankreich nun einen Begriff von den Grenzen, an die diese Politik direkter Beschäftigungsbeihilfen stösst, und der Wahrheit halber muss man eingestehen, dass unsere deutschen und holländischen Partner zu Recht ein wirtschafts- mit einem sozialpolitischen Vorgehen eng gekoppelt haben.

Die neue Politik in Deutschland sollte nicht zu einem Entwicklungsmodell auf Distanz gehen, dass sich bisher bewährt hat. Zur Schaffung stabiler Arbeitsplätze hat man bei unserem Nachbarn seit langem auf die Markwirtschaft vertraut. Ausserdem steht man dort in einer langen Tradition des Sozialdialogs, der den Sozialpartnern eigenständiges Entscheiden ermöglicht. In einigen grossen deutschen Unternehmen haben die Arbeitergewerkschaften auf eigenen Antrieb hin bekannt gegeben, dass sie einen Erhalt der Arbeitsplätze einem Ausbau, ja sogar einer Bestandsbewahrung aller sozialen Errungenschaften vorzögen. In dieser Reife liegt eine der grossen Stärken des rheinischen Modells. Der Kapitalismus wurde in Deutschland stark von einer industriellen Zielsetzung beherrscht und orientierte sich an langfristigen Vorgaben. Jetzt, wo die aus Übersee kommende Finanzwirtschaft anstelle von Industriestrategien eher sehr kurz angelegten Gewinnen den Vorzug geben könnte, bildet der deutsche Kapitalismus ein Gegenmittel, dessen Mixtur man nicht vergessen darf, den Beleg dafür, dass die Investitionen von heute die Gewinne von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen sind. All diejenigen, die von diesem Gebot abweichen, schaden den kommenden Generationen.

Die zweite Stärke Deutschlands liegt seit langem in der frühzeitigen Hinführung der Jugendlichen zu Berufen mit einer hoch entwickelten Industrieausbildung, so dass noch heute grosse deutsche Unternehmen unter der Leitung ehemaliger Azubis stehen. Aber auch hier zeigen sich die deutschen Firmen, die die Suche nach kurzfristigen Interessen umtreibt, als nicht mehr ganz so gewillt, Jugendlichen Lehrstellen zu gewähren. Trotzdem könnte dieses Modell einen nützlichen Einfluss auf Frankreich ausüben, das mit lediglich 400.000 Jugendlichen in dualer Ausbildung immer noch weit zurückliegt.

Schliesslich steht den Arbeitern der deutschen Tradition gemäss ein hohes Gehalt zu. Wer behauptete, dass eine etwa um ein Drittel billigere Arbeitskraft an einem Automontageband die bessere Wirtschaftsentscheidung sei, der bekam vom deutschen Arbeitsministerium zur Antwort, dass diese Rechnung so nicht aufgehe. Ihm wurde erklärt, dass der deutsche Arbeiter, der besser bezahlt, höher qualifiziert und somit dazu in der Lage sei, seinen Beitrag zu einer besseren Spezialisierung des Unternehmens auf den Weltmärkten zu leisten, die Arbeitskosten durch seine Schnelligkeit und seine Motivation bei weitem kompensiere. Der Kampf um die Beschäftigung wird nicht durch eine Gefährdung der Arbeitskraft, sondern durch deren bessere Anpassung gewonnen, die auch eine bessere Ausbildung verbürgt.

Deshalb verlassen wir uns auf unsere Freunde in Deutschland: Anstatt sich von ihrem Modell loszusagen, müssen sie das neue Europa von den Vorteilen eines Ansatzes profitieren lassen, der ihnen lange Jahre ein ausgesprochen solides Wachstum beschert hat.

Der internationale Kontext hat sich allerdings verändert. Die Globalisierung bringt Erfordernisse mit sich, über die Franzosen wie Deutsche unausweichlich gemeinsam nachdenken müssen. Eine gewisse Zurückhaltung in Gehaltsfragen wird notwendig, um Standortwechsel zu vermeiden. Es war nicht falsch, dass Deutschland eine Politik hoher Löhne beibehalten hat, aber seit 1991 sind die Sozialabgaben von 35,5% auf 42% angewachsen. Und Frankreich seinerseits ist trotz bescheidener Entlastungen immer noch Spitzenreiter bei den Lohnnebenkosten. Ebenso wie unserem Nachbarn ist uns eine reelle Instabilität zu eigen gegenüber denjenigen Ländern, die ihre indirekten Arbeitskosten erfolgreich in den Griff bekommen haben.

Die Belastung der Arbeit durch Abgaben muss also zurückgeführt werden. Dies wird aber nur mittels einer viel verantwortungsbewussteren und effizienteren Führung des Wohlfahrtsstaates gelingen. Es geht um eine Regulierung der Krankenversicherung bzw. um eine rechtzeitige Anpassung des Rentensystems, bei denen unsere Regierungen sich noch schwer tun. Das ist ein Vorhaben, das viel Mut erfordert: Die neue deutsche Regierung hat es für richtig erachtet, einige unter Bundeskanzler Kohl vorgenommene Einschränkungen zurückzunehmen; auch die Regierung Jospin glaubte anfangs, sich von den neuen durch die Reform des Sozialversicherungssystems auferlegten Zwängen freizumachen. Verantwortliches Handeln ohne Beispiel ist vonnöten, und den beiden Ländern wird dies nur gelingen, wenn sie sich gegenseitig stützen, um die öffentliche Meinung im Inland dazu zu bewegen, die für den Erhalt gewisser Vergünstigungen empfänglicher ist als für ein mutiges Handeln zur Vorbereitung der Zukunft.

Was hier gesellschaftlich auf dem Spiel steht, ist keine unbegrenzte Ausweitung des Kranken- bzw. Altersversicherungssystems, sondern zunehmend eine systematische Präventivpolitik gegen Langzeitarbeitslosigkeit und damit nicht allein gegen berufliche, sondern auch soziale Ausgrenzung. Dieser Kampf gegen Langzeitarbeitslosigkeit beinhaltet eine neue Strategie: Es geht nicht länger darum, die ewig gleichen Lösungen für Situationen zu liefern, die mittels abstrakter, statistischer Definitionen erfasst wurden, sondern darum, denjenigen Personen entgegenzukommen, deren Lage einen individuellen Ansatz erforderlich macht. Wiedereingliederungsversuche müssen Unterstützung finden, ja, wenn nötig, wiederholt werden. Ein gescheiterter Versuch darf für all jene nicht den Verlust der solidarischen Hilfsmassnahmen bedeuten, die sich um die Wiedererlangung von Autonomie bemühen. Die französische Idee, die Sozialhilfe zu einem wirklichen lokalen Initiativvertrag umzuwandeln und die Erfahrungen in Deutschland, wo versucht wurde, arbeitslose Studienabgänger umzubilden und zu Trägern der Modernisierung im Osten zu machen, zeigen, wie eine Form des gemeinsamen Wettbewerbs aussehen kann, um den nordamerikanischen Dualismus zwischen denen, die immer besser abgesichert sind, und denen, die sich immer weiter ausgeschlossen fühlen, zu überwinden.

Deswegen ist das deutsch-französische Gespann also am ehesten dazu in der Lage, Europa seine wahre Dimension zu verleihen, es einerseits für den Wettbewerb mit der Dynamik Amerikas zu rüsten, es andererseits aber auch dazu zu befähigen, den Schwächen der "Marktgesellschaft" zu entgehen. Weiter auf Investitionen setzen, den Unternehmungsgeist unserer Bevölkerungen bewahren: Das sind die Wege, die es zu einem aktiven, jungen Europa, das den wirtschaftlichen Wohlstand unseres Kontinents sowie dessen Attraktivität sichern kann, zu beschreiten gilt. So manche Verbraucherbewegung, ja sogar eine bestimmte Erscheinungsform konservativer Umweltbewegungen neigt zu einer Ablehnung der täglichen Anstrengungen, die eine ob nun als dauerhaft oder solide bezeichnete Wachstumsentwicklung nun einmal voraussetzt. Angesichts dieser Gefahr muss der nachwachsenden Generation eine wirkliche Solidarität zwischen den Europäern gegenübergestellt werden. Mehr noch, es besteht ein moralisches Gebot, dass Franzosen und Deutsche entschlossen vorantreiben müssen, das Gebot einer aufrichtigen, familiären Grossherzigkeit. Zwei grosse Länder, die so viele Opfer an Menschenleben zu beklagen hatten, müssen in diesem neuen Jahrhundert ein Beispiel für Lebensliebe, für die Geborgenheit von Kindern und für den Respekt der Menschen geben.

Dieses Ideal entspricht demjenigen, das auch die Väter Europas bewegt hat. Weil Deutsche und Franzosen mehr gelitten haben als andere, müssen sie als erste den neuen Weg in die Zukunft beschreiten.

Eigene Übersetzung des Forum



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