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• Das Wesen des Neoliberalismus
Die neoliberale Utopie droht, zu einer Höllenmaschinerie zu verkommen, die sogar den Herrschenden selbst keinen Ausweg lässt. Wie seinerzeit der Marxismus, mit dem unsere Utopie in dieser Hinsicht vieles gemeinsam hat, stößt auch sie nicht allein bei den Spekulanten, den großen Firmenchefs usw., die ja ihre materiellen Lebensgrundlagen daraus beziehen, auf eine ungewöhnliche Glaubenshingabe, den free trade faith oder Freihandelsglauben, sondern auch bei all jenen, die daraus ihre Existenzberechtigung ableiten, wie z.B. die hohen Staatsbeamten und die Politiker, die im Namen wirtschaftlicher Effizienz die Macht des Marktes verherrlichen, die die Aufhebung administrativer oder politischer Schranken fordern, um die Kapitalbesitzer bei ihrer rein persönlichen Suche nach einer als Inbegriff der Rationalität ausgegebenen individuellen Profitmaximierung nicht zu behindern, die unabhängige Zentralbanken verlangen, die predigen, dass sich die Nationalstaaten zugunsten der wirtschaftlich Mächtigen vor den Erfordernissen der wirtschaftlichen Freiheit - d.h. Aufhebung jedweder Marktregulierungen, zuallererst auf dem Arbeitsmarkt, Verbot von Haushaltsdefiziten und Inflation, durchgängige Privatisierung des öffentlichen Sektors, Verringerung der Staats- und Sozialausgaben - zu beugen hätten.© 2000
Pierre BOURDIEU (†) - Soziologe, Professor am Collège de France


Ist die Welt der Wirtschaft, so wie es der dominante Diskurs behauptet, wirklich eine reine und vollkommene Ordnung, aus der sich mit unerbittlicher Logik deren voraussagbare Konsequenzen ableiten lassen und die jedwedes Fehlverhalten mittels Sanktionen im Keim erstickt, welche sie entweder automatisch oder - seltener - auch über den Umweg ihres verlängerten Armes, dem IWF oder der OECD, und deren Zwangspolitik - Senkung der Arbeitskosten, Verringerung der öffentlichen Ausgaben und Flexibilisierung der Arbeit - erteilt? Und wenn sie in Wahrheit nichts weiter wäre als die Verwirklichung der Utopie des Neoliberalismus, einer zu einem politischen Programm gewordenen Utopie, aber einer Utopie auch, der es unter Rückgriff auf eine Wirtschaftstheorie, auf die sie sich beruft, gelingt, sich als wissenschaftliche Beschreibung des Wirklichen zu gebärden?

Diese Schutztheorie ist reine mathematische Fiktion und gründet schon in ihrem Ursprung auf einem unglaublichen Abstraktum, das - im Namen einer so eng gefassten wie streng durchgehaltenen Konzeption einer Rationalität, die mit individueller Rationalität gleichgesetzt wird - darin besteht, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der rationalen Dispositionen und der Wirtschafts- und Sozialstruktur auszublenden, die deren Ausübung doch erst bedingen.

Um die ganze Tragweite dieses Versäumnisses zu erfassen, genügt ein Blick auf das Bildungssystem, das niemals als solches berücksichtigt wird, wo es doch eine entscheidende Rolle bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen sowie bei der Produktion von Produzenten spielt. Aus dieser Art von Sündenfall, der dem Mythos der "reinen Theorie" eines Walras(1) innewohnt, ergeben sich alle Mängel und Versäumnisse der wirtschaftswissenschaftlichen Disziplin und auch die fatale Obstination, mit der sie an der willkürlichen Unterscheidung, die sie allein durch ihre Existenz zwischen der eigentlich wirtschaftlichen, auf Konkurrenz gründenden und Effizienz versprechenden Logik und der sozialen Logik schafft, die auf dem Gesetz der Gerechtigkeit beruht.

Diese im Ursprung schon entgesellschaftlichte und enthistorisierte "Theorie" verfügt heute allerdings mehr denn je über die Möglichkeit, sich den Anschein der Wahrheit, der empirischen Überprüfbarkeit zu geben. Der neoliberale Diskurs ist nämlich kein Diskurs wie andere. Ähnlich wie - Erving Goffman(2) zufolge - der psychiatrische Diskurs in Pflegeanstalten, handelt es sich hierbei um einen "starken Diskurs", der nur deshalb so überzeugend und so schwierig zu bekämpfen ist, weil er die ganze Kraft einer Welt hinter sich vereinigt, die geprägt ist von einem Kräfteverhältnis, zu dessen Existenz dieser Diskurs gerade beiträgt, vor allem indem er die Wirtschaftsentscheidungen derjenigen beeinflusst, welche die Wirtschaftsbeziehungen beherrschen, und auch indem er zu diesem Kräfteverhältnis seine eigene, eigentlich symbolische Kraft hinzufügt. Im Namen eines wissenschaftlichen Erkenntnisprogramms, das in ein politisches Aktionsprogramm verwandelt wurde, vollzieht sich ein mächtiges politisches Unterfangen, das wegen seines rein negativen Anscheins verleugnet wird. Dabei wird das Ziel verfolgt, die Umsetzungs- und Funktionsbedingungen der "Theorie" zu schaffen; ein Programm der systematischen Zerstörung des Kollektiven.

Die Entwicklung hin zu einer neoliberalen Utopie eines reinen und vollkommenen Marktes, die von einer Politik der Dereglementierung der Finanzmärkte ausging, vollzieht sich durch eine Umwandlung und, wie man wohl sagen muss, Zerstörung aller politischen Massnahmen (wie z.B. das Multilaterale Investitionsschutzabkom-men, das die ausländischen Unternehmen und deren Investitionen vor den Nationalstaaten schützen soll): mit dem Ziel, all jene kollektiven Strukturen in Frage zu stellen, die die reine Marktlogik behindern könnten: den Staat, dessen Handlungsspielraum immer weiter schrumpft; die Arbeitsteams, z.B. mittels einer Individualisierung der Gehälter und der Karrieren abhängig von den individuellen Kompetenzen und mittels der sich daraus ergebenden Atomisierung der Arbeiter; die Kollektive zum Schutz der Arbeiterrechte, Gewerkschaften, Verbände, Kooperativen; ja sogar die Familie, die durch die entstehenden Altersklassenmärkte zum Teil ihre Kontrolle über die Konsumption verliert.

Das neoliberale Programm, das seine Kraft aus der politischen und wirtschaftlichen Stärke all jener bezieht, deren Interessen es ausdrückt (Aktionäre, Spekulanten, Industrielle, konservative Politiker, aber auch Sozialdemokraten, die sich auf die beruhigende Tatenlosigkeit des Laisser-faire besonnen haben, hohe Finanzbeamte, die umso verbissener eine Politik durchsetzen, die ihre eigene Schwächung vorsieht, als sie im Unterschied zu den Managern in Unternehmen keinerlei Risiko eingehen, für die eventuellen Folgen geradestehen zu müssen), verstärkt im allgemeinen tendenziell den Bruch zwischen der Wirtschaft und den gesellschaftlichen Realitäten und errichtet somit in der Wirklichkeit ein Wirtschaftssystem, wie es der theoretischen Beschreibung entspricht, d.h. eine Form von logischen Automatismen, die als eine Abfolge von die wirtschaftlichen Akteure bindenden Zwängen erscheinen.

Die Globalisierung der Finanzmärkte sowie die Fortschritte auf dem Gebiet der Informationstechnologien gewährleisten eine bisher ungeahnte Kapitalmobilität und bieten den Investoren, die sich um eine kurzfristige Rentabilität ihrer Investitionen sorgen, die Möglichkeit, die Leistungsstärke der grössten Unternehmen permanent miteinander zu vergleichen und vor diesem Hintergrund auf relative Rückschläge zu reagieren. Die Unternehmen wiederum, die unter einer derartigen steten Bedrohung stehen, müssen sich den Forderungen des Marktes immer schneller anpassen, wollen sie nicht, wie es so schön heisst, das "Vertrauen der Märkte" verlieren und damit auch die Unterstützung durch die Aktionäre, die an einer kurzfristigen Rentabilität interessiert sind und die über immer mehr Mittel verfügen, um den Managern ihren Willen aufzuzwingen, ihnen über die Finanzdirektionen Normen vorzugeben und die personal-, arbeitsmarkt- und lohnpolitischen Entscheidungen zu beeinflussen.

Dies führt zu der unumstrittenen Herrschaft der Flexibilität, d.h. zu befristeten Arbeitsverhältnissen oder Aushilfsverträgen, zu nicht enden wollenden Sozialinitiativen und innerhalb der Unternehmen zu einer Konkurrenz zwischen unabhängigen Niederlassungen, zwischen einzelnen Arbeitsgruppen, die zu mehr Polyvalenz gezwungen sind, und schliesslich auch zwischen den Individuen selbst. Dies geschieht in Form einer Individualisierung des Angestelltenver-hältnisses: durch die Festsetzung individueller Ziele, durch persönliche Evaluationsge-spräche, eine kontinuierliche Bewertung, eine je individuelle Lohnerhöhung oder Prämienbewilligung abhängig von den persönlichen Kompetenzen und Verdiensten, durch individualisierte Karrierewege und Responsabilisierungsstrategien mit dem Ziel, eine Selbstausbeutung derjenigen Manager zu gewährleisten, die selbst als einfache Angestellte in starker hierarchischer Abhängigkeit dennoch, ganz so wie selbständige Unternehmer, für ihre Verkaufszahlen, für ihre Produkte, für ihre Niederlassung, für ihr Geschäft als verantwortlich angesehen werden, und auch durch die Forderung nach einer "Selbstkontrolle", die das "Engagement" der Angestellten auf der Grundlage des "partizipativen Managements" weit über den Kreis der eigentlichen Manager ausdehnt. Das sind alles Techniken rationaler Unterwerfung, die einerseits - nicht nur in verantwortungsvollen Positionen - ein überzogenes Arbeitsengagement erforderlich machen, damit aber andererseits zu einer Schwächung oder Auflösung gemeinschaftlicher Bezugspunkte und gemeinschaftlichen Zusammenhalts führen(3).

Die faktische Einrichtung einer darwinistischen Welt des Kampfes aller gegen alle und auf allen Hierarchieebenen - die Triebkräfte in dieser Welt, die für eine positive Einstellung den Aufgaben und dem Unternehmen gegenüber sorgen, liegen in Unsicherheit, Leid und Stress - wäre wohl nicht so erfolgreich, wenn sie nicht mit dem stillen Einverständnis der stets bedrohten Berufslagen rechnen könnte, die durch das Gefühl der Ungewissheit und durch die auf allen, sogar den obersten Hierarchieebenen auch und vor allem der Manager bestehende Reserve an Arbeitskräften entstehen, welche wiederum aufgrund ihrer prekären Lage und der steten Bedrohung durch die Arbeitslosigkeit gebändigt worden sind. Der letzte Grundstein zu dieser wirtschaftlichen Gesamtordnung, die sich den Anschein der Freiheit gibt, besteht also in der strukturellen Gewalt der Arbeitslosigkeit, der Unsicherheit und der damit einhergehenden Kündigungsdrohung: die Voraussetzung für das "harmonische" Funktionieren des mikroökonomischen, auf dem Individuum basierenden Modells besteht in einem Massenphänomen, d.h. in der bestehenden Reserve an Arbeitslosen.

Diese strukturelle Gewalt macht sich auch bei den sogenannten Arbeitsverträgen bemerkbar (die durch die "Vertragstheorie" wissenschaftlich rationalisiert und entwirklicht wurden). In den Unternehmen war noch nie so oft die Rede von Vertrauen, Kooperation, Loyalität und Unternehmenskultur wie jetzt, wo man sich eine uneingeschränkte Zustimmung sichert und gleichzeitig alle zeitlichen Garantien abschafft (zwei Drittel der Arbeitsverträge sind befristet, der Anteil an gefährdeten Arbeitsplätzen nimmt unablässig zu, individuelle Kündigungen sind tendenziell keinerlei Beschränkung mehr unterworfen).

Daraus wird deutlich, wie sehr die neoliberale Utopie dazu neigt, zu einer Höllenmaschinerie zu verkommen, die sogar für die Herrschenden selbst unvermeidlich ist. Wie seinerzeit der Marxismus, mit dem unsere Utopie in dieser Hinsicht vieles gemeinsam hat, stösst auch sie nicht allein bei den Spekulanten, den grossen Firmenchefs usw., die ja ihre materiellen Lebensgrundlagen daraus beziehen, auf eine ungewöhnliche Glaubenshingabe, den free trade faith oder Freihandelsglauben, sondern auch bei all jenen, die daraus ihre Existenzberechtigung ableiten, wie z.B. die hohen Staatsbeamten und die Politiker, die im Namen wirtschaftlicher Effizienz die Macht des Marktes verherrlichen, die die Aufhebung administrativer oder politischer Schranken fordern, um die Kapitalbesitzer bei ihrer rein persönlichen Suche nach einer als Inbegriff der Rationalität ausgegebenen individuellen Profitmaximierung nicht zu behindern, die unabhängige Zentralbanken verlangen, die predigen, dass sich die Nationalstaaten zugunsten der wirtschaftlich Mächtigen vor den Erfordernissen der wirtschaftlichen Freiheit - d.h. Aufhebung jedweder Marktregulierungen, zuallererst auf dem Arbeitsmarkt, Verbot von Haushaltsdefiziten und Inflation, durchgängige Privatisierung des öffentlichen Sektors, Verringerung der Staats- und Sozialausgaben - zu beugen hätten.

Die Wirtschaftswissenschaftler, die zwar nicht unbedingt dieselben wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen verfolgen wie die wirklich Gläubigen, finden allerdings, was auch immer ihre Bedenken angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen jener Utopie sein mögen, die sie mit mathematischer Beweiskraft versehen, hinreichend eigene Interessen in dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften selbst, um einen entscheidenden Beitrag zur Produktion und zur Reproduktion des neoliberalen Utopieglaubens zu leisten. Sie, die in ihrem ganzen Dasein und vor allem auch aufgrund ihrer gesamten, zumeist rein abstrakten, theorielastigen, auf Büchern basierenden intellektuellen Ausbildung von der tatsächlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität abgeschnitten leben, sind ganz besonders anfällig dafür, die Dinge der Logik mit der Logik der Dinge zu verwechseln.

Während sie ihren Modellen vertrauen und doch praktisch nie die Möglichkeit haben, sie einer experimentellen Überprüfung zu unterziehen, während sie dazu neigen, auf die Errungenschaften der anderen, historisch arbeitenden Wissenschaften herabzublicken, in denen sie nicht die Klarheit und kristallene Transparenz ihrer mathematischen Spielereien wiedererkennen und deren echte Notwendigkeit und tiefe Komplexität ihnen zumeist entgeht, sind sie doch beteiligt und arbeiten doch mit an einem beträchtlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel, der ihnen trotz einiger sie durchaus beunruhigender Folgen - manchmal haben sie das Parteibuch der Sozialistischen Partei und beraten sachkundig deren Vertreter in den Machtinstanzen - nicht missfallen kann, verwirklicht sich doch in diesem Wandel tendenziell und ungeachtet mancher Fehlleistungen, die vor allem auf die bisweilen so genannten "Spekulationsblasen" zurückzuführen seien, eine - wie manche Formen des Wahns - ultrakonsequente Utopie, der sie ihr Leben weihen.

Dabei ist sie doch da, die Welt, mit den sogleich augenfälligen Folgeerscheinungen der Implementierung der grossen neoliberalen Utopie: nicht allein die Armut eines immer grösser werdenden Teils in den wirtschaftlich am weitesten entwickelten Gesellschaften, die aussergewöhnliche Verschärfung der Einkommensunterschiede, die allmählich verschwindenden, unabhängigen, kulturellen Produktionsstätten wie Kino, Verlagswesen etc. als Folge des erzwungenen Eindringens kommerzieller Wertmassstäbe, sondern auch und vor allem die Zerstörung aller Kollektivinstanzen, welche die Folgen der Höllenmaschine hätten verhindern können, - in erster Linie die des Staates, Träger aller universellen, mit dem Konzept des Öffentlichen zusammenhängenden Werte - und der Zwang zu jener Art moralischem Darwinismus, der sich überall in den oberen Sphären von Wirtschaft und Staat und in den Unternehmen breitmacht und der zusammen mit dem Kult des winner - ein Sieger mit Mathematikdiplom und Erfahrung im Bungee-Jumping - in allen Bereichen als Norm den Kampf aller gegen alle und den Zynismus begründet.

Ist es vorstellbar, dass die ungewöhnliche Menge an Leiden, zu der ein solches politisches und wirtschaftliches Regime Anlass gibt, eines Tages eine Bewegung begründet, die den Sturz in den Abgrund verhindern könnte? Tatsächlich stehen wir hier vor einem ungewöhnlichen Paradoxon: während die Hindernisse auf dem Weg zur Gestaltung der neuen Ordnung - eines isolierten, aber freien Individuums - heute auf fehlende Flexibilität und Archaismen zurückgeführt werden und während jedes direkte und bewusste Eingreifen - zumindest wenn es, in welcher Form auch immer, vom Staat ausgeht - im vorhinein diskreditiert und sein Verschwinden zugunsten eines reinen und anonymen Marktmechanismus gefordert wird (wobei man allerdings übersieht, dass dort ebenfalls Interessen herrschen), so ist es doch in Wahrheit den weiterbestehenden bzw. überlebenden Institutionen und Akteuren der alten Ordnung, deren Abbau sich abzeichnet, zu verdanken und der Arbeit aller möglichen Sozialarbeiter und auch all den gesellschaftlichen, familiären etc. Formen der Solidarität, dass die gesellschaftliche Ordnung trotz der Zunahme des gefährdeten Bevölkerungsvolumens nicht im Chaos versinkt.

Der Übergang zum "Liberalismus" vollzieht sich wie eine Kontinentalverschiebung, unmerklich, also nicht wahrnehmbar, so dass sich seine schlimmsten langfristigen Auswirkungen dem Blick entziehen. Diese Auswirkungen werden paradoxerweise auch durch die Widerstände verborgen, die er nunmehr bei denen hervorruft, die für die alte Ordnung eintreten und die dabei in dessen Quellen schöpfen, in den alten Formen der Solidarität, in den Reserven des Sozialkapitals, die gerade den Sturz in die Anomie eines grossen Teils der gegenwärtigen Ordnung verhindern. (Ein Kapital, das sich verbraucht, wenn es sich nicht erneuert und reproduziert, dessen Erschöpfung allerdings noch nicht akut bevorsteht.)

Aber eben diese Beharrungskräfte, die man allzu leicht als konservativ abtut, bilden in anderer Hinsicht Widerstandskräfte gegen die Einrichtung der neuen Ordnung, und sie können zu subversiven Kräften werden. Wenn sich auch weiterhin eine nicht unbegründete Hoffnung bewahren lässt, so deshalb, weil es in den Staatsinstitutionen und bei den Dispositionen der Akteure - vor allem derjenigen, die, wie beispielsweise die oberste Staatsdienerschaft, den Institutionen eng verbunden sind - Kräfte gibt, die zwar scheinbar, wie man ihnen sogleich vorwerfen wird, lediglich für eine vergangene Ordnung und die damit einhergehenden "Privilegien" eintreten, die dabei jedoch tatsächlich, um nicht hinweggespült zu werden, an der Bestimmung und Einrichtung einer neuen Ordnung arbeiten müssen, die nicht dem alleinigen Gesetz der Verfolgung des egoistischen Interesses und der individuellen Profitgier unterworfen ist und die Kollektivorganen Platz bietet: mit der Aufgabe, gemeinschaftlich ausgearbeitete und beschlossene Ziele rational zu verfolgen.

Wie sollte man unter diesen Kollektivorganen, Assoziationen, Gewerkschaften, Parteien nicht auch dem Staat, dem Nationalstaat oder besser noch einem supranationalen Staat eine Sonderstellung einräumen, d.h. einem europäischen Staat (als Etappe zu einem Weltstaat), der dazu in der Lage sein sollte, die auf den Finanzmärkten erzielten Gewinne wirksam zu kontrollieren und zu besteuern und vor allem den zerstörerischen Einfluss dieser Finanzmärkte auf den Arbeitsmarkt zu unterbinden, indem er, unterstützt von den Gewerkschaften, die Bestimmung und die Verteidigung des öffentlichen Interesses organisiert, das sich, ob man es nun will oder nicht, niemals, auch nicht mittels mathematischer Fälschungen, aus der Vision einer Buchhalterseele (zu anderen Zeiten hätte man Krämerseele gesagt) ergeben wird; eine Vision, die uns der neue Glauben als höchste Form menschlicher Vollendung vorgaukelt.
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(1) Anm. d. Red.: Anspielung auf den französischen Wirtschaftswissenschaftler Auguste Walras (1800-1866), Autor eines Buches (1848) mit dem Titel De la nature de la richesse et de l'origine de la valeur (Von der Natur des Reichtums und dem Ursprung des Wertes). Als einer der ersten versuchte er mathematische Methoden zur wirtschaftswissenschaftlichen Analyse zu nutzen.
(2) Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/M, Suhrkamp, 1974.
(3) Vgl. in diesem Zusammenhang die beiden Nummern der Actes de la recherche en sciences sociales, die den neuen Herrschaftsformen in der Arbeitswelt gewidmet sind: "Nouvelles formes de domination dans le travail" (1 und 2), Nr. 114, Sept. 1996, et Nr. 115, Dez. 1996, vor allem die Einleitung von Gabrielle Balazs et Michel Pialoux, "Crise du travail et crise du politique", Nr. 114, S. 3-4.


Eigene Übersetzung des Forum


Veröffentlichungen

Ouvrages publiés en français (liste non exhaustive)
- Esquisse d'une théorie de la pratique - Seuil, coll. "Points d'essais", 2000.
- Propos sur le champ politique - Les presses univ. de Lyon, 2000.
- Leçon sur la leçon - Ed. de Minuit, 1998.
- Les perspectives de la protestation. La résistance sociale outre-Rhin, foyer d'une autre Europe
- Pierre BOURDIEU, Bukart LUTZ, Claude DEBONS - Syllepse, 1998.
- Le métier de sociologue. Préalables épistémologiques - Jean-Claude CHAMBOREDON, Jean-Claude PASSERON, Pierre BOURDIEU, - EHESS (4e éd.), 1998.
- Ce que parler veut dire. L'économie des échanges linguistiques - Fayard, 1997.

Veröffentlichungen auf deutsch
- Die männliche Herrschaft - Suhrkamp, Frankfurt/M., 2000.
- Die zwei Gesichter der Arbeit - UVK, Köln, 2000.
- Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes - Suhrkamp, Frankfurt/M., 1999.
- Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft - Suhrkamp, Frankfurt/M., 1997.
- Das Elend der Welt - UVK , Köln, 1997.
- Perspektiven des Protests. Initiativen für einen europäischen Wohlfahrtsstaat - Pierre Bourdieu, Claude Debons, Detlef Hensche - VSA, Hamburg, 1997.
- Die verborgenen Mechanismen der Macht - VSA, Hamburg,1992.



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