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• Europa, der Euro und die Globalisierung
Die Welt ist im Begriff, sich um die drei großen Schlüsselwährungen Dollar, Yen und Euro herum zu strukturieren. Der Vorzug einer multipolaren Welt, in der es mehrere Devisen gibt, liegt zum einen darin, dass jede einzelne dieser Devisen Wachstum und innere Stabilität der jeweiligen Region unterstützen kann, und zum anderen, dass es leichter ist, geordnete Wechselkurse zwischen wenigen Währungen einzuführen als zwischen - wie derzeit noch der Fall - einer Unzahl von Währungen. Durch ein solches Währungssystem können Leistungsdefizite vermieden werden, welche die Finanzmärkte immer dann verursachen, wenn eine Börsenkrise ausbricht.© 2000
Jean-Paul FITOUSSI - Professor am Institut d'Etudes Politiques
in Paris

Jean-Paul Fitoussi ist auch Vorsitzender des Französischen Zentrum zur Wirtschaftsbeobachtung (OFCE).

Deutsch-französisches Forum: Wie lassen sich heute die währungspolitischen Entschei-dungen in Europa beschreiben?

Jean-Paul Fitoussi : Man kann nicht sagen, dass von den Ländern des Euro-Raumes bereits eine Entscheidung getroffen worden wäre. Das Ziel bleibt weiterhin ein Ziel der Preisstabilität, wie es im Maastricht-Vertrag festgeschrieben wurde. Dieses vorrangige Ziel muss, wie es im Wortlaut des Vertrages selbst heisst, mit einer allgemeinen Förderungen der wirtschaftlichen Grundlagen wie Wachstum, äusseres Gleichgewicht und Arbeit vereinbart werden. Allerdings lässt sich über die im Vertragswerk ehern festgesetzten Ziele hinaus nicht wirklich sagen, dass explizite Entscheidungen von den europäischen Währungsinstanzen getroffen worden wären.

Demgegenüber muss man sich dessen genau bewusst sein, dass die bestehende Einheitswährung selbst einen währungspolitischen Umschwung ermöglicht. Im Laufe der 90er Jahre habe ich oft genug Kritik an den Übergangsmodalitäten zur Einheitswährung geübt - eine doppelte, haushalts- und währungspolitische Zurückhaltung, die die Instrumente der Binnennachfrage, Konsumption und Investition, blockiert und dadurch die Wachstumskräfte gelähmt hat - und mich oft genug für einen schnellen Umstieg auf die Einheitswährung ausgesprochen, um mich über die jetzige Situation freuen zu dürfen. Die Einheitswährung unterliegt nämlich keinem der Zwänge, die noch die Landeswährungen in den letzten Jahren stark benachteiligt haben. Zum einen ist die Europäische Union nach aussen ein nicht sehr offener Wirtschaftsraum. Die Öffnungsrate beträgt etwa 10% und ist damit mit den USA vergleichbar, wo sie bei 12% liegt. Die europäischen Staaten für sich betrachtet haben jeweils eine Öffnungsrate in Höhe von 30% und hängen stark von der Konjunkturlage ihrer europäischen Nachbarn ab. Infolgedessen ist die Konjunkturautonomie der gesamten Union deutlich höher als die Autonomie ihrer einzelnen Komponenten. Kursverluste des Euro müssen also keine Ängste vor eventuellen inflationären Spannungen entstehen lassen. Darüber hinaus befindet sich der Euro in einer Situation freier Wechselkurse, was einen klaren Unterschied zu den ehemaligen Wechselbeziehungen zwischen den Landeswährungen darstellt. Auf der Einheitswährung lasten also auch keine exogenen Zwänge.

Die Grundentscheidung besteht also in der Entscheidung für eine Einheitswährung. Für alles andere ist es noch zu früh, und wir müssen erst abwarten, wie sie sich entwickeln wird.

Forum: Was denken Sie von dem unaufhaltsamen Wertverlust des Euro seit seiner Einführung? Besteht nicht die Gefahr, dass dadurch Spannungen innerhalb des Euro-Raumes und gegenüber den Hauptpartnerländern Frankreichs, vor allem in bezug auf Deutschland, entstehen könnten?

J.-P.: Fitoussi : In dem jetzigen Stadium ist der Wertrückgang des Euro in keiner Weise beunruhigend. Aus mehreren Gründen. Vor allem darf man keine falsche Analyse vornehmen. Der Euro war mit seinem ursprünglichen Kurs von 1,16 $ fraglos überbewertet, wie auch die europäischen Währungen vor der Einführung der Einheitswährung überbewertet worden waren. Der Kurs ist auf der Grundlage voraussichtlicher Entwicklungen festgelegt worden, die sich als falsch herausgestellt haben. Demnach sollte Ende 1998 das amerikanische Wachstum nach einer historischen Periode mit sehr starkem Anstieg ohne Inflation einen Rückgang verzeichnen. In diesem Zusammenhang wurde eine Entwicklung vorausgesagt, nach der der Dollar eigentlich an Wert verlieren und bei seinem Wertverlust von einer entsprechenden Währungspolitik Amerikas begleitet werden sollte. Diese Voraussage ist nicht eingetreten. Die amerikanische Wachstumsrate hat sich auf einem ungewöhnlich hohen Niveau gehalten - der in den 60er Jahren erzielte historische Rekord der Dauer des Wachstums in Amerika wird in wenigen Wochen eingestellt sein; der Inflationsdruck, der allerdings immer noch schwach ist, wird etwas spürbarer, was eine progressive Anhebung der Zinssätze gerechtfertigt hat, darunter die letzte Anhebung am 2. Februar um 0,25 Prozentpunkte. Ein starkes Wachstum, günstigere Voraussagen und höhere Zinssätze in den Vereinigten Staaten als in Europa: da ist es nur logisch, dass der Dollar gegenüber dem Euro zulegt. Das hat überhaupt nichts Mysteriöses oder übertrieben Beunruhigendes. Wie bereits gesagt, ist die Öffnungsrate des Euro-Raumes relativ niedrig, was die Gefahr einer importierten Inflation in Grenzen hält. Demgegenüber lässt sich bei den europäischen Exporten ein leicht positiver Effekt verzeichnen. Die Inflation bleibt weiterhin niedrig, die aktuellen Voraussagen der Europäischen Kommission rechnen mit Zinssätzen von 1,5% im Jahre 2000 und 1,6% im Jahre 2001. Die Konjunkturaussichten sind nach oben korrigiert worden und liegen jetzt bei 3% für die Jahre 2000 und 2001. Vor diesem Hintergrund besteht auch nicht die Gefahr, dass die aktuelle Abwertung des Euro sich ungeregelt fortsetzt.

Innerhalb der Union führt diese Situation zur Zeit nicht zu Spannungen. Das hat vor allem auch mit der aktuellen Lage in Deutschland zu tun. Auch wenn die deutsche Wachstumsrate im Jahre 1999 leicht zugelegt hat, ist die Konjunkturlage in diesem Land doch auch weiterhin ungünstig, und wegen der Strukturstarrheiten sind die Entwicklungen sehr schmerzhaft. Infolgedessen sind die Verantwortlichen in Deutschland so weise, in währungspolitischer Hinsicht Kompromisse einzugehen, und sie erkennen umstandslos die Vorteile eines Euro an, der mit den wirtschaftlichen Grunddaten übereinstimmt und nicht von politischen Überlegungen bestimmt wird.

Für mich stehen heute zwei grundlegende Dinge auf dem Spiel. Das eine ist die politische Dimension des europäischen Einigungsprozesses, das andere das Risiko - das zwar derzeit noch begrenzt ist, deswegen allerdings nicht ignoriert werden sollte - einer Destabilisierung des neuen, sich bildenden internationalen Währungssystems.

Forum: Können Sie näher auf diese beiden Punkte eingehen? Herrscht diesbezüglich zwischen Frankreich und Deutschland Übereinstimmung?

J.-P. Fitoussi : Was den ersten Punkt betrifft, so sind die Bedingungen bekannt, unter denen eine Währung zu einer internationalen und zu einer Reservewährung in den internationalen Handelsbeziehungen werden kann. Diese sind sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Natur.

Was den Euro betrifft, so sind die wirtschaftlichen Bedingungen erfüllt: es bedarf einer gewissen Wirtschaftsmacht und eines gewissen Reichtums. Ausserdem müssen die Finanzmärkte hinreichend integriert und liquide sein.

Die politische Voraussetzung erfüllt Europa demgegenüber ganz und gar nicht: nur die Währung eines Territoriums, das auch eine Aussenpolitik verfolgt, kann zu einer internationalen Währung aufsteigen, weil die Währung dann im Dienst einer Wirtschaftsmacht und einer Politik steht. Im Augenblick scheint man allerdings von einer solchen Perspektive, die weder in den institutionellen Überlegungen noch auch in den Diskussionen ins Auge gefasst wird, relativ weit entfernt zu sein. Das Problem, das sich in Zukunft in Europa stellen wird, ist mehr ein Problem der Souveränitätsentscheidung als ein wirtschaftstechnisches Problem. Es geht also um eine politische Entscheidung, und diese politische Entscheidung ist noch nicht getroffen worden. Selten wurde so wenig über Europa gesprochen wie seit dem Startschuss zur Einheitswährung. Vor dem Euro tauchte Europa in allen Reden und in allen Überlegungen auf.

In diesem Zusammenhang ist eine Übereinstimmung zwischen Frankreich und Deutschland bezüglich der politischen Entscheidungen von grundlegender Bedeutung. Es ist eine schwierige Frage. Haben Deutschland und Frankreich dieselbe Vorstellung von der politischen Gestalt Europas? In der ersten Hälfte der 90er Jahre hatten die Deutschen ein föderales Modell für Europa vorgeschlagen, das in Frankreich auf keinerlei Echo stiess. Die Franzosen scheinen mir heute vielleicht stärker an dem Gedanken einer Errichtung eines föderalen Staates interessiert, was der Einrichtung einer europäischen Regierung gleichkommt, die sich nicht nur auf das Ökonomische beschränkt. Seit dieser Weiterentwicklung der Position Frankreichs erscheinen mir die Deutschen weiter von Europa entfernt, als sie es vor einigen Jahren noch waren.

Was den zweiten Punkt betrifft, so habe ich in dem 1999 veröffentlichten Bericht zur Lage der Europäischen Union den Gedanken entwickelt, man könne um die grossen Währungen herum ein System regionaler Verankerungen errichten, mit dem das potentielle Wachstum, das dort erzielt wird und das natürlich von einer Region zur anderen unterschiedlich ausfällt, besser berücksichtigt werden und mit dem man sich auf ein multilaterales System kompatibler Wechselkurse zubewegen könnte. Seitdem habe ich meine Meinung nicht geändert, denn ich glaube immer noch, dass die Welt im Begriff ist, sich um die drei grossen Schlüsselwährungen Dollar, Yen und Euro herum zu strukturieren. Der Vorzug einer multipolaren Welt, in der es mehrere Devisen gibt, liegt zum einen darin, dass jede einzelne dieser Devisen Wachstum und innere Stabilität der jeweiligen Region unterstützen kann, und zum anderen, dass es leichter ist, geordnete Wechselkurse zwischen wenigen Währungen einzuführen als zwischen einer Unzahl von Währungen, wie es derzeit noch der Fall ist. Durch ein solches Währungssystem können Leistungsdefizite vermieden werden, welche die Finanzmärkte immer dann verursachen, wenn eine Börsenkrise ausbricht.

Sind in dieser Richtung seit dem vergangenen Jahr Fortschritte erzielt worden? Wenn man die Entwicklung des Wechselkurses des Dollar gegenüber dem Euro vergleicht, so lässt sich global gesehen feststellen, dass es in einem ersten und kurzen Zeitraum wegen der Eventualität eines Konjunkturumschwungs in den Vereinigten Staaten mit einem bedeutenden Wachstumsschub in Europa zu einem Wertzuwachs des Euro gegenüber dem Dollar gekommen ist. Die Tatsache, dass dieser Konjunkturumschwung in den Vereinigten Staaten nicht eingetreten ist und dass dort weiterhin ein hohes Wachstum herrscht, hat die Voraussagen verändert, wodurch eine Aufwertung des Dollar verursacht wurde. Man gewinnt also den Eindruck, dass der Wert der Währungen stärker als früher mit der Notwendigkeit eines regionalen Wachstums verbunden ist. Von Bedeutung ist heute, ob sich die Entwicklung des Euro mit dieser Analyse deckt. Die Entwicklung im Jahre 1999 tut es ohne jeden Zweifel, ist es doch offensichtlich, dass in den Vereinigten Staaten ein deutlich schnelleres Wachstum mit höheren Zinssätzen herrschte als in Europa. Aber im Jahre 2000 müsste sich die Beschleunigung des Wachstums in dem Euro-Raum in einer Aufwertung des Euro niederschlagen. Gleichwohl bleiben eine Reihe von Unwägbarkeiten. Die grösste davon ist das Risiko einer Unvereinbarkeit zwischen der Währungspolitik der Europäischen Zentralbank und der Wechselkurspolitik, deren Ziele von dem Europäischen Rat bestimmt werden, auf der einen Seite und auf der anderen die Existenz einer Währungsbehörde bei gleichzeitigem Fehlen politischer Souveränität. In dieser Hinsicht ist die von der Europäischen Zentralbank am 3. Februar getroffene Entscheidung doppeldeutig, den Leitsatz um 25 Punkte anzuheben. Mit dieser Entscheidung scheint diese Institution der FED nachzueifern und eine wirkliche Beunruhigung angesichts des Wertrückgangs des Euro an den Tag zu legen. Eine solche Entscheidung könnte eine ungünstige Abwärtsbewegung und einen Inflationsdruck auslösen, sollte sie negative antizipatorische Handlungen der Märkte hervorrufen. Ich persönlich glaube allerdings nicht daran.

Sollten allerdings die Ungewissheiten dieses Systems die Oberhand gewinnen, so ist es nicht ausgeschlossen, dass der Euro wirklich in eine Krise gerät, die sich in einer starken Abwertung niederschlagen würde. In diesem Fall könnte die Destabilisierungbewegung über Japan und den Yen wirksam werden. Im Laufe des Jahres 1999 hat der Euro gegenüber dem Yen stark nachgelassen. Zwar sind die europäisch-japanischen Austauschbeziehungen nicht dergestalt, dass diese Paritätsentwicklung die Wettbewerbsfähigkeit der japanischen Exporte belasten würde. Wenn aber der Dollar gleichzeitig an Wert verlieren sollte, zum Beispiel in Folge einer Verlangsamung des amerikanischen Wachstums oder einer plötzlichen Wertkorrektur der New Yorker Börse, dann könnte die japanische Wirtschaft dadurch destabilisiert werden, und das zu einem Zeitpunkt, wo die Haushaltsanstrengungen bei der Unterstützung der internen Wirtschaftsentwicklung des Landes immer noch keine Erfolge verbuchen.

Diese beiden Punkte wecken in mir also die Überzeugung, dass es notwendig und dringend geboten ist, der Europäischen Union einen politischen Zusammenhalt zu geben.

Forum: Kommt mit der Gründung der Europäischen Zentralbank nicht ein Prozess zum Abschluss, der zu einer neuen Macht in Europa geführt hat, der gegenüber es kein wirkliches politisches Gegengewicht gibt?

J.-P. Fitoussi : Genau da liegt ja das ganze Problem. Zur Zeit ist die Europäische Zentralbank die einzige föderale Zentralmacht, die ausserhalb der Landesregierungen kein Gegengewicht hat.

Forum: Ausserdem ist sie unabhängig, auch wenn der Rat weiterhin über die Kompetenz verfügt, wechselkurspolitische Leitentscheidungen zu treffen?


J.-P. Fitoussi : Dazu muss man wissen, dass überall da, wo es eine unabhängige Zentralbank gibt, die Wechselkurspolitik trotz allem in den Kompetenzbereich der Regierung fällt. In Artikel 103 des Maastricht-Vertrages ist verfügt, dass die Politik der Zentralbank und der Regierungen im Bereich der Wechselkurspolitik abzustimmen ist.

In juristischer und währungspolitischer Hinsicht muss darauf hingewiesen werden, dass die Zentralbank historisch eine Kuriosität darstellt: sie ist in der Weltgeschichte die einzige Zentralbank mit derart ausgeprägter Unabhängigkeit. In allen Ländern ist die Zentralbank nämlich der Autorität der Landesparlamente unterstellt, die ihre Verfassung verändern können. Bei der Europäischen Zentralbank ist dies nicht der Fall.

Forum: Denken Sie, dass es von Vorteil wäre, wenn das Europäische Parlament ebenfalls Einfluss auf die Verfassung der Zentralbank hätte?

J.-P. Fitoussi : Ganz sicher. Ich habe mich gerade auf die Geschichte bezogen. Ich könnte genauso gut geographisch argumentieren. In den Vereinigten Staaten muss die Federal Reserve dem Kongress Bericht erstatten, wenn dieser es verlangt. Die FED weiss natürlich genau, dass der Kongress die Bedingungen ihres Funktionsgefüges verändern kann. Das ist schon eine merkwürdige Unabhängigkeit! Die amerikanischen Abgeordneten weisen übrigens durchaus auf dieses Argument hin bei dem Versuch, die FED unter Druck zu setzen. Was die Europäische Zentralbank betrifft, so bestehen in dieser Hinsicht keinerlei Möglichkeiten. Dazu kommt noch, dass der Präsident der FED von dem Präsidenten der Vereinigten Staaten für eine verlängerbare Amtszeit von vier Jahren ernannt wird, während der Präsident der Europäischen Zentralbank durch gemeinsamen Beschluss der 15 Mitgliedsstaaten der Euro-Zone für acht Jahre ernannt wird. Die Situation dieser beiden Institution ist somit also nicht vergleichbar. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die FED und ihr Präsident über wirklichen Einfluss verfügen. Nur können sie keine Währungspolitik beschliessen, die von umfassenderen Zielen losgelöst wäre. Sie müssen den Kontext berücksichtigen, in den sich ihre Politik eingliedert. In Europa ist die EZB die einzige wirtschaftliche und damit politische Macht. Dagegen ist kein politisches Gegengewicht vorgesehen worden. Das ist eine ausgesprochen merkwürdige Situation, die potentielle Gefahren in sich birgt. Es ist vor allem ein offensichtliches Anzeichen für ein demokratisches Defizit. Reine Technokraten können derzeit also eine folgenschwere gemeinsame Politik vorgeben, ohne irgend jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Ausserdem besteht das Risiko einer Inkohärenz der unterschiedlichen europäischen Politiken, welche die Konjunktur und das Gleichgewicht in der Union belasten könnte.

Forum: Hat die internationale wirtschaftliche Konjunkturlage immer noch so grossen Einfluss auf die europäische Wirtschaft? Oder haben einige schmerzhafte Folgen der Globalisierung dank der Einheitswährung bereits abgeschwächt werden können?

J.-P. Fitoussi : Vor dem Startschuss zur Einheitswährung hatte das internationale Umfeld wenig Einfluss auf die europäische Konjunkturlage. Seit dem Zweiten Weltkrieg lässt sich das Wachstum in Europa zu 99% mit der Binnennachfrage erklären: der Ausseneinfluss ist also nebensächlich. Die europäische Konjunktur wurde dagegen von den Regeln und Zwängen stark beeinflusst, die sich die europäischen Institutionen selbst gegeben hatten. Gerade letztere haben durch ihre überzogene Strenge, ihre schwache Abstimmung - Währungs- und Haushaltsdisziplin wurden gleichzeitig ins Werk gesetzt - und ihre Inadäquatheit gegenüber den wirtschaftlichen Eckdaten des Euro-Raumes das Wachstum behindert und eine paradoxe Nachfrageschwäche verursacht. Jetzt dürfte das internationale Handelsumfeld noch weniger Einfluss auf die europäische Wirtschaftsentwicklung haben, denn es wird nicht einmal mehr die eingeschlagene Politik belasten - der Wechselkurs kann frei floaten - und der Öffnungsgrad Europas gegenüber der Aussenwelt ist viel schwächer als derjenige jedes einzelnen der Staaten, aus denen es sich zusammensetzt. Der Einfluss der Finanzkrisen wird dagegen voraussichtlich zunehmen. Geldanlagen, vor allem an der Börse, gewinnen in Europa im Rahmen der Kapitalanlage der Haushalte an Bedeutung. Ohne die amerikanischen Quoten zu erreichen, findet die Anlage in Aktienpapieren - d.h. mit Kapitalrisiken - rapide Verbreitung bei den Haushalten. Infolgedessen könnte eine plötzliche Korrektur der Wertpapiere spürbare Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben haben und Nachfrage und Investitionen belasten. Heute hängen die Kursschwankungen in Europa noch stark von den Kursschwankungen der amerikanischen Wertpapiere ab. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Überbewertung besteht die Gefahr einer Kursberichtigung und folglich einer Rezessionsspirale.

Forum: Welchen Einfluss hat die Währungsunion Ihrer Analyse nach auf den Arbeitsmarkt?

J.-P. Fitoussi : Das wichtigste Ziel der Europäischen Union ist es natürlich, unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Effizienz zur Vollbeschäftigung zurückzukehren. Arbeitslosigkeit bedeudet, dass Produktivressourcen verschwendet werden.

Diesbezüglich hat die Währungsunion potentiell eine günstige Wirkung auf den Arbeitsmarkt. Dabei muss sie allerdings von Bedingungen begleitet werden, die noch nicht alle gegeben sind.

In einem Manifest, das ich im September 1998 zusammen mit Franco Modigliani, Beniamino Moro, Dennis Snower, Robert Solow, Alfred Steinherr und Paolo Sylos Labini veröffentlicht habe, wurde darauf hingewiesen, dass das hohe Niveau der Arbeitslosigkeit bei den am wenigsten Qualifizierten eher das Resultat einer gesellschaftlichen Entscheidung ist denn ein Ergebnis eines von aussen kommenden Unheils. Es ist fraglos die Folge einer schlechten Nachfragepolitik und mangelnder Phantasie im Bereich des Angebotsmanagments.

Zuerst muss darauf hingewiesen werden, dass die bis vor kurzem gängigen, zweistelligen Arbeitslosenraten ein trauriges Merkmal der Länder des Euro-Raumes waren. In Norwegen betrug sie nämlich Ende 1998 nur 4%, in der Schweiz 5,5%, im Vereinigten Königreich 5,6%. Die Bedeutung eines ausgewogenen policy mix ist demnach also ausschlaggebend. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Nachfrage ist in den 90er Jahren allzu sehr vernachlässigt worden. Dabei ist er wesentlich. So ist seit Beginn der Ölkrise im Jahre 1973 die Anstiegsquote bei der Nachfrage deutlich unter die Wachstumsrate der Produktionskapazitäten, die Summe des Wachstums aus Produktivität und Arbeitskraft, gefallen.

Ausserdem muss unterstrichen werden, dass sich der Unterschied zwischen dem Anstieg der Arbeitslosigkeit seit Anfang der 70er Jahre in Europa und den Vereinigten Staaten seit 1982 vor allem in zwei Zeiträumen vergrössert hat. Bis 1982 ist die Arbeitslosigkeit in Folge einer restriktiven Währungspolitik, die einen Investitionsrückgang ausgelöst hat, auf beiden Kontinenten deutlich angestiegen. Das war im Grunde unvermeidbar, um die durch die beiden Ölkrisen ausgelöste Inflationsspirale zu stoppen. Nach 1982 aber hat sich in Europa die Depression und die Arbeitslosigkeitsentwicklung bis 1986 fortgesetzt, während in den Vereinigten Staaten das Wachstum deutlich zugelegt und die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist. Der zweite Zeitraum verläuft von 1992 bis 1998. 1982-86 und 1992-98 sind zwei Perioden, die in den Vereinigten Staaten von einer kräftigen Zunahme der Investitionen und Produktionskapazitäten geprägt waren, in Europa dagegen von einer anhaltenden Wirtschaftsschwäche.

Deswegen sind für mich stärkere produktive Investitionen der Schlüssel zu Wachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen. Dies geht nur über eine Förderung privater und über eine Stärkung öffentlicher Investitionen. Dazu muss auch die Europäische Union einen positiven Beitrag leisten.

Es ist bereits zu bemerken, dass der radikale Wechsel des policy mix in Europa (eine eher expansionistische Währungspolitik und eine neutrale Haushaltspolitik) einer Wiederbelebung des Wachstums in Europa vorangeht. Durch die Senkung der Zinssätze konnte nicht nur die private Konsumptions- und die Investitionsnachfrage wieder auf ein normales Niveau ansteigen. Auch die Haushaltsanpassungen wurden dadurch nachhaltig erleichtert.

Forum: Die Franzosen versuchen ein "soziales Europa" voranzutreiben. Herrscht in diesem Punkt vielleicht keine vollkommene Übereinstimmung mit den Deutschen?

J.-P. Fitoussi : Dessen bin ich mir nicht so sicher. Deutschland hat ein soziales Netz, das dem französischen Sozialstaat in nichts nachsteht. Worum es in der gegenwärtigen Debatte geht, sind im wesentlichen Randkorrekturen dieses Sozial-staates und nicht dessen Abbau bzw. Auflösung. Objektiv gesehen sind das französische und deutsche Sozialversicherungsmodell also ganz ähnlich. Das Grundproblem besteht allerdings darin, dass man keine Entscheidung zugunsten eines Sozialmodells treffen kann ohne eine wirkliche europäische Regierung. Die Bestimmung eines Gesellschaftsvertrages bildet die allererste Aufgabe einer Regierung. Es ist nur schwer vorstellbar, dass es zu einer solchen Bestimmung kommen kann, wenn man nicht vorher die, wie ich es nenne, "Leerstelle der politischen Souveränität in Europa" gefüllt hat. Das Paradoxe der gegenwärtigen Situation erstaunt mich immer wieder, in der die nationalstaatliche Souveränität von politischen Regeln beschränkt wird, die unter den europäischen Regierungen gemeinsam beschlossen worden sind, und in der man die Bildung einer föderalen Souveränität verhindert - im Namen der Bewahrung derselben nationalstaatlichen Souveränität. Wir befinden uns also im Augenblick vor einer Leerstelle: weder volle nationalstaatliche noch föderale Souveränität. Mit einem leeren Stuhl lässt es sich unmöglich lange weitermachen. Bei schönem Wetter kann man eventuell ohne Steuermann auskommen, sollte allerdings eine Sturmfront aufziehen - und das wird in dem kommenden Jahrzehnt bestimmt geschehen -, dann wird man feststellen, dass er unverzichtbar ist und dass Europa in Schieflage gerät.

Forum: Ein möglicher Unterschied zwischen Europa und den Vereinigten Staaten besteht doch darin, dass hier soziale Imperative und eine gewisse Abschwächung von manchmal schmerzhaften Folgeerscheinungen des Liberalismus Berücksichtigung finden …

J.-P. Fitoussi : … der zentrale Unterschied zwischen Europa und den Vereinigten Staaten besteht nicht darin, dass es dort liberaler zugeht als hier. Es ist verkehrt zu glauben, dass die Vereinigten Staaten durch die politischen Entscheidungen keinen Einfluss auf den Arbeitsmarkt haben. Ganz im Gegenteil! Die Vereinigten Staaten verstehen sich meisterhaft darauf, ihre nationalstaatliche Souveränität einzusetzen, und jedes Mal, wenn es ihnen nötig scheint, nutzen sie massiv alle Instrumente sowohl in makropolitischer (Währungs-, Haushalts- und Wechselkurspolitik) als auch in handelspolitischer Hinsicht. Im übrigen darf dabei nicht vergessen werden, dass, wenn das amerikanische "Modell" sich von dem europäischen "Modell" unterscheidet, wenn es mit einer grösseren Flexibilität des Arbeitsmarktes einhergeht, dies auch daran liegt, dass die Arbeitslosigkeit dort so niedrig ist. Das Risiko, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, wird daher durch die Möglichkeit kompensiert, zügig einen neuen zu finden. In dieser Kombination liegt das Gleichgewicht des amerikanischen Modells. Um aber auf Europa zurückzukommen: die zentrale Lehre, die aus diesem Vergleich gezogen werden sollte, ist, dass die Union wegen ihrer fehlenden Souveränität noch eingeschränkt ist. Sie ist es weniger als es jeder einzelne Staat in Europa war, als er trotz eines hohen Öffnungsgrades zu einer rigorosen Haushalts- und Währungspolitik verpflichtet war, aber sie ist es mehr als die Vereinigten Staaten, und - das bleibt zu wünschen - deutlich mehr als sie es in Zukunft sein wird.

Forum: Lässt sich zur Stunde sagen, ob die Folgen des Euro denen entsprechen, die sich die Staaten in Europa erhofft hatten?

J.-P. Fitoussi : Ich glaube ja. Ich glaube, dass die Folgen des Euro aus einem offensichtlichen Grunde positiv sind: das Verschwinden der Währungsdisparitäten hat die nahezu alltägliche Bevormundung der Politik der Regierungen durch die Devisenmärkte unterbunden. Die Einheitswährung hat also jedem einzelnen unter ihnen zu einem viel grösseren Handlungsspielraum verholfen, als er ihn früher hatte. Infolgedessen hat die Politik dank der Einheitswährung wieder den Raum gewonnen, den sie verloren hatte. Paradox daran ist, dass die europäischen Instanzen sich selbst Zwänge - Kriterien des Maastricht-Vertrages, Stabilitätspakt etc. - auferlegt haben, gerade zu einem Zeitpunkt, wo sie nach mehrjährigen kontinuierlichen Opfern eine neue Freiheit erlangten. Heute gilt es also, diese politische Bewegungsfreiheit zu verstärken, dieses Feld völlig zu öffnen, um der Wirtschaftspolitik zu ermöglichen, sich den Erfordernissen der lokalen Konjunkturlagen permanent anzupassen. Gerade hier, hinsichtlich dieser zu begründenden europäischen Souveränität, wird über die Zukunft der Union und ihre Wirtschaftsentwicklung entschieden. Wirtschaft und Politik schlicht und einfach voneinander zu trennen, ist nicht vorstellbar. Beide sind eng miteinander verbunden. Ich würde sogar sagen, dass die Politik die Vorrangstellung, das letzte Wort behalten sollte, denn sie ist es, die die Regeln des Gemeinschaftslebens aufstellt, an dem die Wirtschaft Anteil hat und für das sie ein Instrument darstellt.

Forum: Wie stellen Sie sich die Integration derjenigen Länder der EU in den Euro-Raum vor, die daran bisher noch nicht teilnehmen? Und wie die Integration der kommenden Unionsmitglieder?

J.-P. Fitoussi : Das Problem ist für Griechenland und Grossbritannien nicht dasselbe. Griechenland ist selbst an einem Beitritt zum Euro interessiert, während im Fall Englands die Mitgliedsländer des Euro-Raumes seinen Beitritt wünschen! Die beiden Länder befinden sich nicht in derselben politischen und wirtschaftlichen Lage.

Ich denke, dass Griechenland vermutlich in zwei bis drei Jahren dem Euro-Raum beitreten wird. Grossbritannien wird dagegen in dem Augenblick beitreten, wo die Wechselkursparitäten für das Land am günstigsten sind. Der britische Staat hat immer einen grossen Pragmatismus an den Tag gelegt.

Was die künftigen Unionsmitglieder betrifft, so denke ich nicht, dass ihr Beitritt zum Euro möglich ist, bevor Europa nicht eine Regelung für sein politisches Problem gefunden hat. Das Entwicklungspotential weckt zahlreiche Beitrittsneigungen. Gleichwohl wird dieses Potential nur dann wirklich ausgeschöpft werden können, wenn die Union regiert wird. Wie schon gesagt, der Schlüssel für den amerikanischen Erfolg liegt in dem Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft, nicht darin, dass die Politik zugunsten der Wirtschaft abdankt. Jedwede Reform der Institutionen wird jedoch in Frage gestellt werden, wenn man diese Länder beitreten lässt, bevor diese Reform wirksam geworden ist. Es ist schon schwierig, zu 15 Entscheidungen zu fällen, stellen Sie sich dann einmal vor, es gibt mehr Mitglieder … Die Gefahr bestände darin, dass Europa - abgesehen von einer technischen Währungssouveränität - strukturell zu einem souveränitätslosen Raum würde. Es wäre eine Freihandelszone, die sich die anderen Regionen der Welt streitig machen würden, die unter einer wirklichen politischen Regierung stehen. Die politische Union Europas ist durch die Wirtschaft entstanden, aber nur durch die Politik kann sich Europa weiterentwickeln.

Eigene Übersetzung des Forum

Veröffentlichungen

- Rapport sur l'état de l'Union Européenne 1999, (dir.), Fayard/Presses de Sciences Po : Paris, 1999, 257 p - Paris 2000, 238p.
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- Le nouvel âge des inégalités, (avec Pierre Rosanvallon) Le Seuil : Paris, 1996, 231 p. (publié en espagnol - Manantial : Buenos Aires, 1997 -, portugais - Oerias : Celta, 1997 -)
- Le débat interdit : monnaie, Europe, pauvreté, Arléa : Paris, 1995, 318 p. (publié en espagnol - Paidos : Barcelone, 1996 -, portugais - Terramar : Lisbonne, 1997 -, italien - Il Mulino : Bologne, 1997 -)
- Economic Growth, Capital and Labour Markets : proceedings of the trenth World Congress of the International Economic Association, (éd.) Macmillan Press Ltd : Basingstoke, 1995, 265 p.
- Entre convergences et intérêts nationaux : l'Europe, (dir.) Presses de la Fondation nationale des Sciences Politiques : Paris, Collection Références/OFCE, 1994, 453 p.
- Pour l'emploi et la cohésion sociale, avec Anthony B. Atkinson, Olivier J. Blanchard, John S. Flemming, Edmond Malinvaud, Edmund S. Phelps, Robert M. Solow, Presses de la Fondation nationale des Sciences Politiques : Paris, Collection Références/OFCE, 1994, 238 p. .
- Les cycles économiques, (sous la direction de Jean-Paul Fitoussi et Philippe Sigogne), Presses de la Fondation nationale des Sciences Politiques : Paris, Collection Références/OFCE, 1994, 2 volumes, 281 et 247 p.



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