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• Grundprinzipien für eine europäische Verfassung
Europa wird erst dann vollendet sein und kann erst dann seiner vorgesehenen Bestimmung gerecht werden, wenn es mit einem demokratischen, d.h. noch von den einfachsten Bürgern identifizierbaren politischen Regime versehen wird. Europas politische Verwirklichung erfolgt notwendigerweise über die Ausarbeitung einer Europäischen Verfassung, deren Aufgabe es sein wird, die Bürger der Union über deren Funktionsweise und Zielsetzung aufzuklären. Die innige Freundschaft, die Frankreich und Deutschland verbindet, wäre eine Garantie dafür, dass dieser Text zu beiden Seiten des Rheins von demselben Gedanken durchtränkt wäre. © 1999
François BAYROU - Vorsitzender der UDF Ehemaliger Minister


Alle menschlichen Gebrechen/ Sühnet reine Menschlichkeit …", schreibt Goethe 1827 in einer Widmung zu Iphigenie auf Tauris. Dieser Gedanke, wonach der gesellschaftliche Fortschritt untrennbar mit dem moralischen Fortschritt verbunden ist, ja wonach er dessen vollkommenstes Ergebnis darstellt, würde vermutlich zur Kennzeichnung des alten, europäischen Humanismus genügen, dieser Ansicht von dem Menschen, die auf keines der anderen Modelle, die es auf Erden geben mag, reduziert werden kann. Der Gedanke nämlich, dass die menschliche Person im Zentrum der Gesellschaft stehe und dass ihre Menschwerdung sich weder nur auf die Marktinteressen noch nur auf die Anforderungen seitens des Staates reduzieren oder sich damit verwechseln lasse.

Die Botschaft, die Europa der Welt mitteilt, ist eine Botschaft der Kultur, die sich auf das natürliche Bestreben der Menschen gründet, sich geistig zu erheben und mit den Mitmenschen brüderliche Bindungen einzugehen, sowie auf die Existenz eines Aufrufs zur Transzendenz, der der Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag vorangeht. Konkret gesprochen bedeutet dies, dass Belange politischer Natur - im ursprünglichen und noblen Wortsinn - vor allen anderen kommen müssen.

Da das Grundprinzip und die Zielsetzung feststehen, die seit fünfzig Jahren die Gemeinschaftswerdung bestimmen - politisches Handeln im Dienste der Entfaltung der Menschen -, muss nurmehr eine neue Methode für das Europa von morgen definiert werden. Sie gründet in meinen Augen auf einer notwendigen Strukturierung dieses politischen Willens, der in einer organisierten Gesellschaft durch die Einrichtung von anerkannten und von den Völkern legitimierten Institutionen Ausdruck findet.

In dieser Hinsicht geht meine Überzeugung dahin, dass Europa erst dann vollendet sein und seiner vorgesehenen Bestimmung gerecht werden kann, wenn es mit einem demokratischen, d.h. noch von den einfachsten Bürgern identifizierbaren politischen Regime versehen wird. Europa hat bisher nicht wirklich unter seinem demokratischen Defizit gelitten. Die Bevölkerungen Europas haben sich darüber, wenn sie bisweilen mit eingebunden oder manchmal, sofern die Landesverfassungen das vorsahen, direkt befragt wurden, nicht wirklich beklagt. Diese Zeit aber, die vielleicht den Kindertagen einer werdenden Institution angemessen war, ist nun vorbei. Denn in demselben Masse wie die Europawerdung voranschritt, wuchs auch bei den europäischen Völkern das Gefühl, vielleicht Zeugen zu sein, höchstwahrscheinlich aber doch eher dessen ohnmächtige Zuschauer. Und so ist das Bedürfnis nach Transparenz und Beteiligung entstanden wie auch die Ahnung, dass die freie Entscheidungsgabe der Menschen unter dieser Dynamik, auf welche sie keinen Einfluss haben, leiden werde.

Dieser zur Zeit bestehende Bruch zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedern macht die Ausarbeitung einer Europäischen Verfassung notwendiger denn je. "Die Form", so der Jurist Ihering, "ist die Zwillungsschwester der Freiheit". Anders ausgedrückt: Die Macht muss geordnet sein. Natürlich gibt es Verträge, und das Recht zwingt die Gewalt. Aber Europa ist keine Demokratie, so wie Athen es ehedem war. Diese Demokratie definiere ich als die Kenntnis, die ein Volk von seinen Regierenden und deren Kompetenzen besitzt sowie von seinem ihm zukommenden Recht, für einen regelmässigen Wechsel zu sorgen. In dieser Hinsicht ist noch viel zu tun. Während Europa mit der EWU ein Gebäude errichtete, das für die Öffentlichkeit wirklich wahrnehmbar war, schien es sich gleichzeitig Schritt für Schritt von den politischen Realitäten zu entfernen, von eben jenen Klauseln des Gesellschaftsvertrags, die eine Unterordnung der Regierten unter die Regierenden gewährleistet.

Ich glaube, dass Europas politische Verwirklichung notwendigerweise über die Ausarbeitung einer Europäischen Verfassung erfolgt, deren Aufgabe es gerade sein wird, die Bürger der Union über deren Funktionsweise und Zielsetzung aufzuklären. Wir könnten dafür hier den Grundstein legen.

Die innige Freundschaft, die Frankreich und Deutschland verbindet, diese komplexe Geschichte aus Zuneigung und Hass, diese beiden Gesichter ein und derselben Passion, würden fraglos dafür Sorge tragen, dass dieser Text zu beiden Seiten des Rheins in derselben Sprache verfasst würde. In der Tradition der deutschen Aufklärung und der französischen "Lumières" stehend würde er wohl einleitend an die Verbundenheit der Union mit den grossen, aus der Französischen Revolution hervorgegangenen Prinzipien erinnern. Wenn nun diese Gründungsschrift für eine neue politische Ordnung in Europa diese Philosophie wieder aufgriffe, würde sie sich unweigerlich darum bemühen, die folgenden Wertvorstellungen in Erinnerung zu rufen, so wie sie letztlich auch in Artikel 20 des Grundgesetzes von 1949 festgehalten sind: die Grundsätze eines demokratischen, sozialen und rechtsstaatlich organisierten Bundesstaates, die sich in den vier Begriffen Legitimität, Legalität, Gerechtigkeit und Subsidiarität zusammenfassen lassen.

Das Demokratieprinzip beruht auf einer Dynamik, jener der Zerbrechlichkeit und der Bedeutung des Vertrauensbandes, das die Regierenden mit den Regierten verbinden muss. Dieses Vertrauen beginnt dort, wo die Völker die Führenden erkennen. In diesem Kontext ist es, glaube ich, für Europa notwendig, sich einen Kopf und eine Stimme zu geben, die es sowohl im Innern der Union als auch auf der Weltbühne verkörpern können. Es sollte einen Präsidenten Europas geben, dessen Aufgabe es ist, in dessen Namen zu sprechen, und der für die europäische Exekutive verantwortlich ist. Die Europäische Verfassung sollte seine Stellung definieren und seine Rechte anführen.

In dem Rechtsstaatsprinzip kommt die beginnende Unterwerfung der Staaten unter das Recht zum Ausdruck. Die berühmte Entscheidung des französischen Verfassungsrates vom 23. August 1985, in der es präzisierend heisst, dass "das Gesetz den Willen der Allgemeinheit nur unter Berücksichtigung der Verfassung zum Ausdruck" bringe, trägt die Notwendigkeit in sich, eine neue Hierarchie zwischen den europäischen und den nationalen Normen zu begründen, die von einem europäischen Verfassungsgerichtshof bestätigt werden müsste.

Das Sozialstaatsprinzip ist nichts anderes als die moderne Entsprechung des alten Gleichheitsgrundsatzes. Der soziale Fortschritt, d.h. die allgemeine Verbesserung der Gesamtheit der individuellen Lebenslagen, muss zu dem vorrangigen Ziel Europas im 21. Jahrhundert werden. Diesbezüglich darf die Einführung des Euro nicht den Blick verstellen für die Wirklichkeit eines von Arbeitslosigkeit und Existenzbedrohungen heimgesuchten Europas. All unsere Bemühungen müssen sich künftig auf diesen Kampf hin ausrichten. Vielleicht sollte man, wenn die Konstitutionalisierung der rechtlichen und wirtschaftlichen Kriterien, so wie sie in dem Maastricht-Vertrag festgeschrieben sind, erst einmal bewerkstelligt ist, bei derselben Gelegenheit ein Kriterium sozialer Natur einführen, das nicht länger nur ein schlichtes Lippenbekenntnis ist.

Das den Deutschen wohlvertraute Bundesstaatsprinzip schliesslich bedeutet vor allem, dass klar und deutlich gesagt wird, wer was in der Union tut. Neben dem pädagogischen Ziel, das solch eine Reform umfasst, bin ich gleichfalls davon überzeugt, dass - egal ob es sich um die Union oder die Mitgliedstaaten handelt - eine klare Kompetenzaufteilung ein Garant für die Effizienz aller betroffenen Institutionen ist. Auch hier würde es wieder dem Europäischen Verfassungsgericht oder einer anderen Subsidiaritätsgerichtsbarkeit zufallen, über die Einhaltung der Kompetenzen eines jeden zu wachen, so wie es zur Zeit der Karlsruher Gerichtshof tut.

Das sind einige der Grundprinzipien, die die Väter der kommenden Europäischen Verfassung anleiten sollten. Es handelt sich um weit mehr als nur um eine schlichte Kompilation von Rechtsregeln, sondern darum, die grundlegenden Werte der europäischen Kultur in einer gemeinschaftlichen Charta zusammenzutragen. Durch ihre Geschichte, ihre Kulturen und ihre gemeinschaftliche Zukunftsvision schreiben Deutschland und Frankreich seit mehr als zwei Jahrhunderten zusammen an der Geschichte dieses Kontinents. In beiden spiegelt sich ein und dasselbe Antlitz des europäischen Genius wider, dem die Aufgabe zuteil geworden ist, jene Botschaft des Humanismus, zu dessen weitstrahlendem Symbol Goethe wurde, durch die Zeiten hinauszutragen.

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