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• "Da Verbirgt sich auch Absicht hinter der Ordnung"
Am 10. September 1989 öffnet sich die ungarisch-österreichische Grenze. Tausende Deutsche aus dem Osten strömen auf diesem Weg in die Bundesrepublik. Künftig stellt dieses Jahresdatum einen "Gedenktag für die Nationen Mitteleuropas" dar: Der erste Riss im Eisernen Vorhang gab den entscheidenden Anstoß zum Niedergang des Totalitarismus. Einer der Zeitzeugen dieser Epoche, der ungarische Premierminister Viktor Orbán, erinnert daran, daß der Fall der Berliner Mauer zwar dieses zentrale Kapitel der europäischen Geschichte symbolisiere, daß die Öffnung der ungarischen Grenze, die diesem Ereignis vorangegangen war, allerdings nicht weniger wichtig gewesen sei und daß erst die Kette verschiedener Ereignisse den Umschwung ermöglicht habe. Er unterstreicht auch das Bestreben der jungen Demokratien, Teil der EU zu werden. Seiner Ansicht nach werde allerdings "die europäische Frage so lange offen bleiben, wie das Tor zur Europäischen Union geschlossen ist"© 2000
Viktor ORBÁN - Ungarischer Premierminister


Selbst nach zehn Jahren fühlen wir uns tief aufgewühlt, wenn wir bedenken, was für ein System das wohl war, wo Menschen sichere Arbeit, ruhiges Leben, sogar das Werk ihres Lebens aufgaben, ohne viel nachzudenken, um in die Freiheit zu flüchten. Die Ereignisse vor zehn Jahren haben bewiesen: die Ordnung der Geschichte und die menschliche Natur duldet keine solche Lebenswelt.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch im Besonderen jener gedenken, die vor der Geburt der jungen ungarischen Demokratie aktiv an dem bedeutungsvollen Ereignis der Grenzöffnung teilnahmen. Diejenige, die bereit waren, sich von der treibenden Kraft der Geschichte fortreissen zu lassen, um dadurch den ungarischen und deutschen Bürgern - letzten Endes ganz Europa - einen grossen Dienst zu erweisen.

Im Laufe der Jahre, so sagt man, werden wir nicht nur um Erfahrungen reicher, sondern um etwas mehr, wofür es sich gelohnt hat Mühsal, Demütigung und schmerzliches Spiessrutenlaufen im Leben zu ertragen. Aus den Erfahrungen lässt sich nach einigen Jahren ein System aufbauen. " Wie der Wanderer "- so schreibt Sándor Márai, der ungarische Schriftsteller, der erst nach Abriss des eisernen Vorhangs in unserer Heimat gewürdigt wurde -, "wie der Wanderer, der während seiner Wanderungen ein verwickeltes Gebirgssystem kennenlernt, und vom höchsten Gipfel die Struktur der Landschaft überschaut, die Gesetzmässigkeiten in der zusammenhängenden Berggipfelkette durchblickt. So sehen wir - aus der Perspektive der vergangenen Jahre - das System in allem, was in unserem Leben und im Leben anderer geschieht."

Wir Ungarn konnten damals, inmitten der heranströmenden Ereignisse noch nicht wissen, was die Vorsehung mit uns vorhat. Wir hofften, dass wir hier, in Mitteleuropa, unsere nationale Unabhängigkeit eines Tages zurückerlangen werden. Wir hofften, dass die Stunde der Freiheit und der Wahrheit kommt. Wir hofften, dass wir wieder einmal unsere eigenen Herren sein werden. Wir hofften und wollten, aber wir konnten nicht sicher sein.

Der gemeinsame Wille von Millionen von Menschen hat eine mitreissende Macht. Sie kann uns sowohl in die Tiefe stürzen, als auch in die Höhe heben. Es war ein wunderbares Gefühl, mit ganzen Nationen zusammen zu denken, sich zu freuen, zusammen zu atmen. Viele von uns wurden jedoch vom Zweifel geplagt: werden wir nicht noch einmal enttäuscht? Kommt jetzt wirklich die Stunde der Freiheit und der Unabhängigkeit? Wird man unsere Hoffnungen nicht, wie 1956, wieder stehlen?

Nach zehn Jahren stehen wir heute auf dem Berggipfel der Jahrtausendwende und durchschauen das System in allem, was geschehen ist. Und - genauso wie der Wanderer - überblicken wir nicht nur den Weg, den wir hinter uns gebracht haben, sondern auch die Windungen, die Hindernisse, die noch vor uns liegen, die Gipfel, die noch zu bezwingen sind und die sanft absteigenden Täler.

Jetzt, wo das Alltägliche von damals zum Feiertag wird, jetzt ist die Zeit gekommen, auf den wechselvollen Landschaften der mitteleuropäischen Geschichte auch gemeinsam umherzublicken. Wir sehen, dass die Geschehnisse jener vierzig Jahre eng zusammenhägen, die einen gehen aus den anderen hervor, und sie zeigen alle in die Richtung derselben Geschichtsordnung. Die einzelnen Gipfel der Gebirgskette reihen sich heute bereits nebeneinander auf.

1953 der Aufstand von Berlin.
1956 die Revolution und der Freiheitskampf in Ungarn.
1968 der berühmte Prager Frühling.

Und dann die Bewegung der polnischen Solidarnosc in den Jahren 1980 und 1981.

Dann wurde der eiserne Vorhang abgerissen, und die Berliner Mauer fiel. Die Ereignisse nahmen ihren eigenen Lauf, und trieben die mitteleuropäischen Länder auf die Freiheit zu - manchmal sogar unabhängig vom Willen jener, die ursprünglich den Stein ins Rollen gebracht haben.

Nach zehn Jahren ist es nicht zu übersehen, wie stark die Hauptdarsteller dieser historischen Ereignisse - die mitteleuropäischen Nationen - einander brauchten. Wir sehen, dass die Verzweiflung der Deutschen den Glauben der Ungarn nährte; dass die Niederlage der Ungarn die Völker in der Tschechoslowakei zum Handeln anspornte; dass der starke Wille der Polen den Ungarn wieder neue Hoffnung gab; und dass die Hilfsbereitschaft der Ungarn den Bürgern von Deutschland nicht nur Freude brachte, sondern sie auch stärkte und ihnen Mut gab.

Könnte es wohl möglich sein, dass die Kette der Ereignisse, die uns bis an diesen Punkt brachte, plötzlich abbricht? Könnte es möglich sein, dass wir - nachdem wir alle unsere Freiheit erlangten - einander langsam verlieren?

Nach dem Fall der Berliner Mauer stand der deutschen Wiedervereinigung nichts mehr im Wege. Das wiedervereinigte Land durchlief in zehn Jahren eine grosse Entwicklung, vollbrachte regelrechte Wunder. Wir freuen uns darüber, denn wir glauben, dass Ungarn bei der Geburt vom Deutschland des 21. Jahrhunderts dabei war und mithalf.

Vor 1990 konnte man mit Recht sagen, dass, solange das Brandenburger Tor geschlossen ist, die deutsche Frage offen bleibt. Heute ist es genauso richtig zu sagen, dass, solange das Tor der Europäischen Union geschlossen ist, die europäische Frage offen bleibt.

Alle Menschen, die damals, vor zehn Jahren die deutschen Bürger an der österreich-ungarischen Grenze sahen, wie sie vor Freude weinten und die Freiheit suchten, haben wahrscheinlich nicht geahnt, dass diese Grenze in zehn Jahren noch immer Ungarn und die Europäische Union voneinander trennen wird.

Wir Ungarn sind nach zehn Jahren immer noch der Meinung, dass dieser unsichtbare Zaun nicht in die europäische Ordnung gehört. Wir sind zuversichtlich, dass er - gerade aus diesem Grund - nicht mehr lange an unserer Grenze entlangläuft. Vielleicht sind es gerade die Ereignisse vor zehn Jahren, die uns Hoffnung geben.

Durch den Abriss des eisernen Vorhangs wurden wir Ungarn persönliche Teilnehmer historischer Ereignisse. Das gab uns Kraft und Mut, dadurch haben wir unsere Selbstachtung zurückgewonnen. Damals erlebten wir das erste Mal, dass unser Wille Gewicht hat, und wir Macht in der Hand haben.

Diese wiedergewonnene Selbstachtung war uns eine grosse Hilfe in all den vergangenen Jahren. Oft schöpfen wir Kraft aus den Erinnerungen, wenn wir stark sein müssen: wenn die Umstände gegen uns arbeiten und die Oberhand zu gewinnen scheinen; wenn Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen und äusserer Zwang uns die Hände binden. Da helfen uns die Erlebnisse aus jener Zeiten, dass wir die Umstände bezwingen können, dass wir unser Schicksal wenden können, dass wir stark genug sind, unabhängig und selbständig zu sein.

Aus diesem Grund sind wir nicht niedergeschlagen, auch wenn die Grenze der Europäischen Union an der Stelle des eisernen Vorhangs verläuft und immer stärker kontrolliert wird. Aus diesem Grund können wir uns von ganzem Herzen darüber freuen, dass wir vollberechtigte Mitglieder im Atlantischen Bündnis sind. Wir sind zuversichtlich, weil die Mitglieder des Bündnisses erkannten, dass die westliche Welt erst dann vollständig wird, wenn sie zulässt, dass Blut wieder in ihre eingeschlafenen Glieder hineinströmt. Wir vertrauen auf uns und auf Europa, und glauben, dass die natürliche Ordnung sich auf diesem Kontinent mit vereinten Kräften wiederherstellen lässt.

Bei dem bereits zitierten ungarischen Schriftsteller liest man an einer Stelle: "Auf dem Grund des menschlichen Lebens gibt es Ordnung. Und da das menschliche Leben die komplexeste Form der Schöpfung ist, scheint es wahrscheinlich zu sein, dass anderswo auch Ordnung herrscht, auch in der Welt der einfacheren Existenzen. Alles bewegt sich in Richtung einer letztlichen Ordnung, unaufschiebbar."

In der Geschichte der Menschheit stiegen immer wieder Zweifel auf, ob es eine moralische Ordnung in der Welt gibt, ob es eine moralische Ordnung in der Geschichte gibt. Die Erfahrungen jener Generationen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts im Karpatenbecken aufwuchsen, haben ausnahmslos diesen Zweifel gestärkt.

Darum betrachten wir die Öffnung der Grenze als Scheidelinie in der Geschichte der ungarischen Nation und von ganz Europa. Nach all den langen Jahrzehnten des Kalten Krieges haben Millionen erlebt, dass es am Ende - dank der Vorsehung - immer die Wahrheit ist, die die Oberhand gewinnt. Weil da verbirgt sich auch Absicht hinter der Ordnung.

Darum ist der Jahrestag der Öffnung dieser Grenzen ein Feiertag für die mitteleuropäischen Nationen, darum ist dies ein Feiertag der freudigen Erinnerung.

Wir Ungarn glauben fest daran, dass es auch in der Zukunft nicht anders wird: durch die natürliche Ordnung der Geschichte wird Europa wieder vollständig.



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