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• Der Europäische Traum zur Jahrhundertwende
Seit einiger Zeit schon ist innerhalb der Gemeinschaft ein Prozess wechselseitiger Annäherung der Rechtssysteme zu beobachten, der sich, wenn nicht alles täuscht, im kommenden Jahrhundert fortsetzen dürfte. Die Grundlage der Europäischen Union besteht vor allem in einem Rechtssystem, das absolute und direkte Gültigkeit beansprucht. Die Gemeinschaft ist nichts anderes als eine Rechtsgemeinschaft. Mit der Bejahung und Durchsetzung des Europarechts steht und fällt noch immer alles. © 2000
Prof. Dr. Thomas OPPERMANN - Professor für Europäisches Recht
an der Universität Tübingen


Wahrscheinlich ist es ein datenmässiger Zufall, dass sich nach vielen Anzeichen um die Jahrhundertwende eine Art „europäischer Zeitenumbruch" abzeichnet. Nach ähnlichen Vorgängen in den letzten Jahren in England, Frankreich, Spanien, Italien hat die Bundestagswahl im September 1998 auch in Deutschland zur Ablösung jener Politikergeneration geführt, für welche die unmittelbar erlebte Kriegs- und Nachkriegszeit im Sinne eines „nie wieder" zur Antriebskraft des europäischen Einigungsprozesses wurde. An ihre Stelle treten überall Jüngere, welche die Gründe und Anfänge der europäischen Integration nur aus den Schulbüchern und den nicht immer gerne angehörten Erzählungen der Älteren kennengelernt haben. Diese Jüngeren sind nicht Anti-Europäer. Das Eindrucksvolle an der europäischen Idee ist und bleibt, dass sie in den verschiedenen Ländern Europas zwischen den Generationen und zwischen den massgeblichen politischen Lagern bei allen Unterschiedlichkeiten im Näheren das grosse einigende Band geblieben ist, welches immer wieder gemeinsame Zielsetzungen und gemeinsame Politik ermöglicht.

Dennoch muss sich die Europa-Idee von Generation zu Generation immer wieder neu legitimieren. Das vielzitierte Wort Helmut Kohls, Europa sei eine „Sache von Krieg oder Frieden", entsprang noch ganz dem Erlebnishorizont der letzten Nachkriegsgeneration. Es würde von seinen Nachfolgern kaum in dieser Weise wiederholt werden. Die Europäische Union als Aussöhnungs- oder Friedensprojekt wird heute nicht ernsthaft in Frage gestellt. Es ist aber zu einer Art selbstverständlichem „Acquis communautaire" geworden, der von der älteren Generation übernommen wurde, aber nicht mehr für sich alleine zur Erklärung dafür ausreicht, weshalb die Europäer ihre nationalen Währungen zugunsten des Euro aufgeben oder eine schwer abschätzbare Zahl neuer Mitglieder in Mittelosteuropa und am Mittelmeer in die Gemeinschaft aufnehmen sollen. Kürzlich hat Aussenminister Josef Fischer in Paris vor dem Auswärtigen Ausschuss der Nationalversammlung formuliert: „Vierzig Jahre lang haben wir Europa nach der Methode Monnet vorangebracht. Nach meiner Überzeugung sind wir jetzt an einem Punkt angelangt, wo unsere Bürger genauer wissen wollen, wohin die Reise geht."

Europäische Rechtskultur als Fundament

Seit geraumer Zeit hat innerhalb der Gemeinschaft mit der Annäherung der Rechtsordnungen eine Entwicklung eingesetzt, die, wenn nicht alles täuscht, sich auch nach der Jahrhundertwende fortsetzen wird. Grundlage der Europäischen Union ist vor allem anderen eine unbedingt und unmittelbar geltende Rechtsordnung. Die Gemeinschaft ist Rechtsgemeinschaft, nicht mehr und nicht weniger. Mit der Bejahung und Durchsetzung des Europarechts steht und fällt noch immer alles. Die Union verfügt trotz einiger ihr jüngst verliehener finanzieller Sanktionsmittel über keinen wirklichen Büttel, mit dem sie sich notfalls gegen widerstrebende Mitgliedstaaten durchsetzen könnte. Ihre ultima ratio ist der Spruch des Gerichtshofes. Seine Weisheit soll den Respekt vor dem Gemeinschaftsrecht garantieren. Das funktioniert bisher einigermassen, zumal das Interessengeflecht zwischen den Mitgliedstaaten mittlerweile so dicht geworden ist, dass jeder weiss, dass er sich durch Rechtsungehorsam, der rasch Nachahmung finden könnte, selbst schädigen würde.

Freilich zeigt der Ende 1999 neu ausgebrochene „beef-war" zwischen Grossbritannien einerseits und vor allem Frankreich und Deutschland andererseits, dass die Herrschaft des europäischen Rechts immer wieder auf harte Proben gestellt wird, wenn sich nationale Sorgen und Emotionen an hehren Prinzipien wie dem Gesundheitsschutz entzünden.

Neben dem Geltungsbereich des europäischen Gemeinschaftsrechts im engeren Sinne ist mittlerweile der Beginn einer wichtigen zweiten Stufe europäischer Rechtsentwicklung auszumachen. Seit den fünfziger Jahren hatte das sekundäre Europarecht zunächst die Fundamente der Rechtsgemeinschaft in Ausformung der Vorgaben der europäischen Vertragsverfassung gelegt. Der Gemeinsame Zolltarif, die Agrarmarktverordnungen, Freizügigkeits-regeln, ein europäisches Wettbewerbsregime und vieles andere mehr zeugen hiervon. Dieser Prozess dauert an. Die vielbeklagte Brüsseler „Regulierungswut" hat allerdings in den neunziger Jahren seit Einführung des Subsidiaritätsprinzips etwas nachgelassen.

Die Ausbildung des Gemeinschaftsrechtes im engeren Sinne wird nunmehr seit etlichen Jahren durch eine andere Form europäisch inspirierter nationaler Rechtsetzung ergänzt und vertieft. Der Präsident des EuGH, Rodriguez Iglesias, hat sie als „Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung" eindrucksvoll umschrieben. Sie wird zwar ihrerseits im EG-Vertrag an ungefähr 20 Stellen als Rechtsangleichung zur Förderung des Binnenmarktes angeschoben, vor allem durch europäische Richtlinien. Dieser Prozess hat sich jedoch im Laufe der Zeit immer stärker von seinen gemeinschaftsrechtlichen Ursprüngen verselbständigt. „Europäisierung der Rechtsordnung" ist mehr und mehr zu einer Suche nach den gemeinsamen europäischen Wurzeln des in den Mitgliedstaaten geltenden Rechtes geworden. In wichtigen Fällen wurden auf diese Weise bereits empfindliche Lücken im Rechtssystem der Gemeinschaft geschlossen. Bekannt ist vor allem die in den sechziger Jahren erfolgte richterrechtliche Findung von Gemeinschaftsgrundrechten durch den Gerichtshof aus den gemeinsamen Verfassungsüberliefer-ungen der Mitgliedstaaten. In den neunziger Jahren hat der Luxemburger Hof in ähnlicher Kühnheit die Haftung der Mitgliedstaaten bei Verstössen gegen Gemeinschaftsrecht in Gestalt einer ungeschriebenen europäischen Ergänzung der nationalen Staatshaftungssysteme begründet. Hierüber weit hinaus hat sich die Rechtsangleichung jedoch inzwischen in verschiedenen Formen als der umfassendste Aspekt der Gemeinschaftsaktion überhaupt erwiesen. Dabei ist seit den siebziger Jahren an die Stelle ehrgeizig perfektionierender Harmonisierungen oftmals die Technik der gegenseitigen Anerkennung der sich nahestehenden Rechtsordnungen getreten. Mit dem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens" im Sinne der „Cassis de Dijon"-Rechtsprechung und ihrer Fortentwicklung wird zunächst das für den Binnenmarkt Notwendige in Gestalt gegenseitiger Öffnung der Märkte getan. Es bleibt auf diese Weise Zeit für spätere wirkliche Rechtsharmonisierung, wenn sie sich denn als nützlich erweist. Über die ursprünglichen binnenmarktrelevanten Schwerpunkte hinaus gibt es heute bereits kaum einen grösseren Bereich des privaten, öffentlichen und inzwischen auch des Strafrechts, der nicht in den Sog des Europäisierungsprozesses geraten wäre. Neben die unmittelbar durch die Gemeinschaft angestossenen Massnahmen sind völkerrechtliche Angleichungsverträge getreten. Trotz manch fortbestehender Schwierigkeiten wie bei der seit Jahrzehnten stockenden Schaffung einer europäischen Aktiengesellschaft ist bei den Bemühungen um die Europäisierung immer neuer Rechtsbereiche seit den achtziger und neunziger Jahren geradezu eine Art Aufbruchsstimmung festzustellen. Stück für Stück werden die Konturen eines europäischen Rechtsraumes sichtbar. Wahrscheinlich sind diese gemeinsamen Tiefenstrukturen europäischer Rechtskultur ein besonders wichtiges Anzeichen dafür, dass die Errichtung der überstaatlichen Rechtsgemeinschaft kein seelenloses technokratisches Konstrukt darstellt, sondern an Traditionen anknüpfen kann, deren Wurzeln bis in die Zeiten Bolognas und des römischen corpus iuris zurückreichen.

Unter den Gewinnern oder Verlieren des 21. Jahrunderts?


Alles in allem ist heute noch schwierig zu deuten, wie sich der eingangs bemerkte „Zeitenbruch" der Jahrhundertwende auf den Fortgang des europäischen Einigungsprozesses auswirken wird. Welche Priorität misst die Generation der 50jährigen, in deren Hände die Geschicke der Europäischen Union jüngst übergegangen sind, die Aznars, Blairs, Jospins, Schröders und andere, dem Fortgang der europäischen Integration bei? Träumen sie den europäischen Traum weiter? An politisch schwerwiegenden Gründen, die Union über ihre wirtschaftlich weit vorangetriebene Seite hinaus politisch zu vollenden, mangelt es nicht. Ebensowenig freilich an grossen Problemen. Als erstes ist die Herkulesaufgabe anzupacken, die weitere Vertiefung der Gemeinschaft mit der anstehenden grossen Erweiterung ihres Mitgliederkreises so zu verbinden, dass die künftige gesamteuropäische Union arbeitsfähig bleibt. Bei diesen verschiedenen Herausforderungen wird es wie schon in der Vergangenheit entscheidend auf die Erhaltung der Bindungskraft eines allseits bejahten und befolgten europäischen Rechts ankommen, wenn eine Gemeinschaft von 20 bis 30 Mitgliedern sich nicht übermorgen in eine lockere Handelszone verwandeln soll, in der jedes Mitglied sein eigenes Süppchen kocht. Nachdem der europäische „Superstaat" aus der ernsthaften politischen Diskussion verschwunden ist, bleibt nur die Fortsetzung und Erneuerung der Integration in den bewährten Formen, auf denen die Gemeinschaft seit Jahrzehnten aufgebaut hat, verbunden mit dem gelegentlichen Ausmisten des einen oder anderen Augiasstalles. Dabei dürfen die weiteren Fortschritte des Einigungsprozesses sich nicht auf Wirtschaft und Politik beschränken. Für die Dauerhaftigkeit einer staatsähnlichen Verbindung der europäischen Völker ist mindestens ebenso die Vermittlung der Erkenntnis entscheidend, dass Europa trotz aller ethnischen und sprachlichen Vielfalt eine reale Ganzheit darstellt. Sie gründet sich auf ein jahrtausendealtes geschichtliches und kulturelles Erbe, in das gemeinsame antike, christliche und humanistische Traditionen eingeflossen sind. Diese „Suche nach der Seele Europas", nach den gemeinsamen kulturellen Fundamenten der Gemeinschaft kann freilich nur in sehr begrenztem Rahmen Sache der politisch-juristischen Aktion in Gestalt von „EG-Kulturkompetenzen" sein. Gefordert sind hier in erster Linie die spontanen Kräfte der Zivilgesellschaft.

An der Schwelle des 21. Jahrhunderts mag man beginnen zu spekulieren, welches Attribut dem anbrechenden Säkulum eines fernen Tages zugeteilt werden könnte. Das 19. Jahrhundert wird oft das europäische genannt. Die Ideen aus dieser kleinen Landzunge am Rande des asiatischen Kontinents gingen um die ganze Welt. Gleichzeitig unterwarf sich Europa grosse Teile Afrikas und Asiens. Das alles ist mittlerweile Vergangenheit. Das 20. Jahrhundert ist in seinem Verlauf mehr und mehr das amerikanische geworden. Der American Way of Life und ebenso die militärische und wirtschaftliche Stärke der einzigen seit den neunziger Jahren verbliebenen Supermacht prägen heute die internationale Staatengemeinschaft. Futurologen haben gelegentlich das 21. Jahrhundert bereits als das asiatisch-pazifische ausgerufen. Jüngst sind allerdings Schatten auf diese Voraussage gefallen.

Wo bleibt Europa? Es hat viele seiner Kräfte in zwei grossen selbstzerfleischenden Kriegen verbraucht. Es ist zurückgefallen. Aber „warum sollte dieser grosse Herd der Zivilisation, der Stärke, der Vernunft und des Fortschritts unter seiner eigenen Asche verlöschen?" So hat der französische Staatspräsident de Gaulle in den sechziger Jahren gefragt. Das steht nirgends geschrieben. Der Einigungsprozess eines halben Jahrhunderts hat mit der Schaffung der europäischen Gemeinschaft und Union bereits weit geführt. Er hat die Kräfte sichtbar werden lassen, die im alten Kontinent immer noch schlummern. Werden sie sich im neuen Jahrhundert so weit bündeln und entfalten, dass Europa die neuartigen Formen friedlichen Zusammenlebens vollendet und der Welt vorzuleben vermag? So, wie sie einige weitblickende Politiker mit Hilfe juristischen und wirtschaftlichen Sachverstandes seit den fünfziger Jahren entwickelt haben? Unmöglich erscheint dies nicht. Die verantwortlichen jüngeren Generationen müssen sich jedoch der Einsicht stellen, dass nur starke und integrierte Lösungen den Zusammenhalt schaffen können, mit dem Europa dauerhaft zu einer florierenden Vereinigung seiner Staaten findet und eine seiner Bedeutung entsprechende globale Rolle zu übernehmen vermag. Der englische Historiker Arnold Toynbee hat den Gang der Weltgeschichte vor längerer Zeit durch die Wirkungskräfte zwischen challenge und response zu erklären versucht. Einige der offenkundigsten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts an die EU wurden hier benannt. Sie zu bestehen erfordert in Brüssel und den Hauptstädten der Mitgliedstaaten vermehrt die Einsicht und Fähigkeit, dass es hierzu gemeinsamer Antworten bedarf.

Veröffentlichungen

- Europarecht, 2.Auflage
, 1999
- Grauzonen im Welthandel
, 1998
- Die Europäische Gemeinschaft in der Welthandelsorganisation (WTO)
, 1995
- Reforming the International Economic Order
, 1987



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