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• Wir brauchen eine langfristige Vision für Europa
Die grundlegende Vertiefung und Erweiterung der Union wird nur dann erfolgreich sein, wenn wir einen stärkeren gemeinsamen Gestaltungswillen an den Tag legen und wenn wir unsere jeweiligen nationalstaatlichen Egoismen überwinden. Die Union darf von seinen Mitgliedstaaten nicht mehr länger nur als ein gemeinsamer Markt angesehen werden, aus dem sie den größtmöglichen persönlichen Nutzen ziehen können. Wir Europäer müssen eine neue, gemeinsame politische Verhandlungskultur fördern, wodurch der europäischen Integration eine neue Qualität verliehen wird.© 2000
Romano PRODI - Präsident der Europäischen Kommission


Mit der Perspektive einer Erweiterung auf bis zu 30 und mehr Mitgliedsstaaten steht die Europäische Union heute vor einer der grössten Herausforderungen ihrer Geschichte. Die Erweiterung stellt eine Chance zur Revitalisierung und strategischen Neuausrichtung der Union dar. Allerdings weiss ich, dass es darüber auch andere Meinungen gibt. Hierüber brauchen wir eine substantielle Debatte, für die die Europäische Kommission, aber auch Deutschland und Frankreich als wichtiger Motor der Integration, eine besondere Verantwortung tragen.

Die Europäische Union muss einen Mehrwert produzieren, der für die Bürger politisch sichtbar ist. Wichtige Schritte hierzu sind bereits getan: Der gemeinsame Binnenmarkt ermöglicht den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Der Euro als gemeinsames Zahlungsmittel bindet die Volkswirtschaften dauerhaft und für die Bevölkerung spürbar aneinander. Die Grundlagen für eine Politische Union sind durch die gemeinsamen Institutionen gelegt, insbesondere durch das Europäische Parlament, das die Erwartungen und den Willen der Bürger zum Ausdruck bringt. Schliesslich ist mit dem Beschluss des Europäischen Rats von Köln, die Westeuropäische Union in die Europäische Union zu integrieren, die Basis für eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik geschaffen.

Damit können wir uns aber nicht zufrieden geben. Wir kommen aus verschiedenen Ländern, sprechen verschiedene Sprachen und haben verschiedene historische und kulturelle Traditionen, die es zu bewahren gilt. Was wir nun schaffen müssen, ist eine Union, die auch in den Herzen und Köpfen verankert ist und die sich auf das starke Gefühl eines gemeinsamen Schicksals stützt. Sie sollte in ihren Institutionen und in ihren Aktionen unserer gemeinsamen europäischen Identität, der Seele Europas, entsprechen. Anders wird es uns nicht gelingen, die beitrittswilligen Staaten effektiv in die Europäische Union zu integrieren.

Konkret stehen wir heute vor drei grossen Aufgaben, die gleichzeitig bewältigt werden müssen:

- die Erweiterung der EU und die Gestaltung unserer Beziehungen zu unseren anderen Nachbarländern,

- die Reform des politisch-institutionellen Systems der EU im Rahmen der anstehenden Regierungskonferenz,

- die Sicherung des Wirtschaftswachstums, der Schaffung neuer Arbeitsplätze und der Durchsetzung des Prinzips nachhaltiger Entwicklung.

Für die Erweiterung brauchen wir eine politische, keine technokratische Strategie. Es geht hier nicht nur um die Beitritte zur Union, sondern sehr viel weitgehender um die Frage, wie wir langfristig unser Zusammenleben in einer grossen Familie europäischer Nationen organisieren wollen.

Die Erweiterung macht eine umfassende Überprüfung und Reform unserer gemeinsamen Politiken erforderlich. Je mehr Staaten beitreten, desto schwieriger wird es sein, die Bereiche zu bestimmen, die auf europäischer Ebene zu regeln sind. Wir müssen deshalb jetzt den Mut aufbringen, diese Fragen ernsthaft und ehrlich anzugehen.

Für die Staaten, die erst längerfristig für eine Mitgliedschaft in Betracht kommen, müssen wir zukunftsweisende Konzepte erarbeiten, z.B. eine „virtuelle Mitgliedschaft" in bestimmten Bereichen als Vorstufe einer späteren Vollmitgliedschaft. Diesen Staaten könnte eine weitgehende Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion, neue Formen der Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik sowie Konsultativrechte und Beobachterstatus in Europäischen Institutionen angeboten werden.

Gleichzeitig müssen wir ein klares Gesamtkonzept für die Beziehung zu unseren unmittelbaren Nachbarn entwickeln, d.h. zu den Staaten, denen wir keine Beitrittsperspektive zur Europäischen Union geben können. Ich denke vor allem an Russland. Wir alle - die Europäische Union, die Beitrittskandidaten und unsere Nachbarn - müssen zusammenwirken, um eine neue europäische Architektur des Friedens, der Stabilität und des allgemeinen Wohlstands zu schaffen.

Eine andere unmittelbare Herausforderung stellt die bevorstehende Regierungskonferenz dar. Die Erweiterung, aber auch die Krise der letzten Kommission, die niedrige Wahlbeteiligung an den Europawahlen 1999 und institutionelle Defizite machen eine tiefgreifende Reform der europäischen Institutionen unabdingbar. Ein schrittweises Vorgehen mit mehreren Regierungskonferenzen würde Europa in einem Zustand permanenter Verfassungsreform verharren lassen. Dies wäre für die Bürger nicht nachvollziehbar und würde eine Vergeudung von Energien bedeuten, die anderweitig dringend benötigt werden. Mit einer Reform, die keine effiziente Beschlussfassung ermöglicht, können wir uns deshalb nicht zufrieden geben.

Basis einer erfolgreichen Europäischen Union ist schliesslich eine starke und gesunde Wirtschaft, die in der Lage ist, den Europäern Arbeit zu geben sowie ökologisch und ökonomisch nachhaltiges Wachstum zu sichern. Die hierfür notwendigen Strukturanpassungen müssen jetzt angegangen werden, der derzeitige Wirtschaftsaufschwung bietet die Chance zu Strukturanpassungen bei geringeren Kosten. Europas Wirtschaft heute modernisieren, heisst mehr Arbeitsplätze für morgen schaffen.

Wir brauchen ein Bekenntnis zu nachhaltiger Entwicklung, das keine leere Floskel bleibt. Wir müssen die langfristigen Probleme angehen, die sich aus den demographischen Trends und ihren Auswirkungen auf das Gesellschaftsgefüge ergeben. Es geht darum, sowohl die Produktivität, als auch die Zahl der Erwerbstätigen zu erhöhen. Wenn uns dies gelingt, haben wir eine echte Chance, eine gerechte und tragfähige Gesellschaft für die heutigen und die künftigen Generationen herauszubilden.

Es wird uns nur gelingen, die Union substantiell zu vertiefen und zu erweitern, wenn wir zu mehr gemeinsamem Gestaltungswillen kommen und nationale Egoismen überwinden. Die EU darf von den Mitgliedsstaaten nicht mehr in erster Linie als ein Marktplatz gesehen werden, auf dem möglichst viel für das eigene Land herauszuholen ist. Um die beschriebenen Herausforderungen meistern zu können, brauchen wir mehr Orientierung an dem, was für Europa insgesamt erforderlich ist. Wir müssen zu einem neuen Umgang miteinander sowohl in Verhandlungsprozessen als auch in der öffentlichen politischen Debatte kommen, um dadurch eine neue Qualität der europäischen Integration insgesamt zu erzeugen.

Europa kann in der internationalen Staatengemeinschaft nur dann wirklich eine Rolle spielen, wenn es mit einer Stimme spricht. Wir müssen deshalb jetzt daran arbeiten, die Europäische Union zu einem effektiven und handlungsfähigen Akteur zu machen. Die neue Europäische Kommission wird als Motor in diese Richtung wirken. Wir brauchen eine langfristige Vision für Europa. Ich wünsche mir, dass Deutschland und Frankreich für diese Vision gemeinsame Positionen entwickeln und dadurch - wie in der Vergangenheit - den Einigungsprozess von neuem durch einen strategischen Impuls voranbringen.



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