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Überlegungen zur Identität und künftigen Bestimmung Europas
Eine solche Überlegung verweist uns vor allem auf das Wesen des europäischen Einigungsprozesses. Welchen Beitrag leistete historisch gesehen die Kultur, das Geistige und die europäische Zivilisation? Vor dem Hintergrund einer solchen Fragestellung lässt sich besser beurteilen, wie dieser Prozess sich selbst und der Welt gegenüber definiert werden kann. Nach dem Ende des Kommunismus muss das demokratische Europa nach dem einigenden Band und dem Grund suchen, warum wir zu Solidarität verpflichtet sind.
Europa heute zu definieren, bedeutet eben auch, in der Vielfalt das Wesentliche herauszustreichen, den versteckten Sinn aus dem "bereits bestehenden vielhundertseitigen Vertragswerk herauszuheben und daraus eine Einheit zu bilden", eine für alle verständliche Verfassung zu begründen. Europa heute zu definieren, bedeutet darüber hinaus, konkrete Überlegungen über eine Institutionenreform und ein eventuelles Zweikammersystem anzuregen. Diese Fragen sind wohl unumgänglich, und Vaclav Havel, der ehemalige Dissident des - wie man sagte - "anderen Europa", der Schriftsteller und jetzige Politiker, ist durch seine persönliche Lebensgeschichte und seine Bildung sicherlich in besonderem Maße berufen, uns die einfachen und doch weitreichenden Grundgedanken verständlich zu machen, die der Annäherung der Europäer und ihrer Länder zugrunde liegen. Gleichzeitig fordert er uns auch dazu auf, uns unverzüglich jenen entscheidenden Fragen zu stellen, die unserer besonderen Verantwortung obliegen, denn "wir stehen an einem der wichtigsten Scheidewege der europäischen Geschichte"
© 2000
Václav HAVEL - Präsident der Tschechischen Republik


Als vor zehn Jahren der Eiserne Vorhang fiel und den Kommunismus mit sich riss, ahnten nur wenige die ganze Tragweite der Folgen, die sich daraus ergeben sollten, und der Herausforderungen, vor denen die Menschheit stehen würde.

Betrachten wir einige dieser Fragestellungen genauer:

Als unser Kontinent zweigeteilt war und der grössere Teil sich unter sowjetischer Herrschaft befand, stand die Bestimmung Westeuropas fest:

- Verteidigung der demokratischen Werte mittels einer besseren zwischenstaatlichen Kooperation, vor allem im wirtschaftlichen Bereich, durch ein Unterbinden von jedweden Konflikten zwischen diesen Staaten, aber auch durch die Vereinigung ihrer Kräfte für das Wohl aller;

- der klare Beweis der Überlegenheit des auf der Freiheit des Menschen und dem Unternehmergeist beruhenden Wirtschaftssystems durch dessen wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit.

Diese gemeinsamen Zielsetzungen haben die westeuropäischen Staaten zu einer immer enger werdenden Annäherung veranlasst, die schliesslich in einer wirtschaftlichen und politischen Integration mündete. Die Nähe zu einem totalitären Reich verlieh ihren Integrationsbemühungen einen Sinn und war ihnen in vielerlei Hinsicht Anreiz. Dadurch, dass das Sowjetreich einen bedrohlichen Schatten auf Westeuropa warf, lieferte es einen Grund für diesen Annäherungsprozess. Und dieses Bewusstsein sollte erst den natürlichen Antrieb zur Einigung bilden.

Anders ausgedrückt: angesichts der kommunistischen Gefahr wusste das demokratische Europa sehr genau, was seine Einheit garantierte und warum es solidarisch zu sein galt.

Nun ist diese Bedrohung allerdings mit dem Ende des Kalten Krieges verschwunden; die Welt hat sich verändert, ist viel komplizierter geworden. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass sich das geeinte Europa früher oder später unter dem Druck der neuen Situation über seine Existenz, seine Möglichkeiten, seine Perspektiven und seine Bedeutung Klarheit verschaffen muss. Das bedeutet: seine Identität und künftige Bestimmung überdenken. Europa als einen geeinten Wirtschaftsraum zu begreifen, um der Konkurrenz aus Amerika oder Asien besser standhalten zu können, ist heute nicht mehr aktuell. Dieses Argument reicht nicht länger aus.

Sicherlich ist es richtig, dass der europäische Einigungsprozess in den 90er Jahren, kurz nach dem Fall des Kommunismus, eine beträchtliche Weiterentwicklung erfahren hat. Aus den Europäischen Gemeinschaften ist eine Europäische Union geworden, die sich um einiges vergrössert hat und die nunmehr gar unter einem einheitlichen Währungssystem zu leben beginnt. Das sind gewiss beachtliche Ergebnisse! Dennoch kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass diese Fortschritte lediglich das Resultat eines Prozesses einer anderen Zeit, eines anderen Zusammenhangs sind und dass sich dieser Prozess tragen lässt ohne eigentlich neuen Impuls, ohne wirkliches Verständnis für das, was ihn eigentlich ausmacht. Es sieht fast so aus, als habe das sich bildende Europa die grundlegend neuen Zusammenhänge, in denen es sich heute bewegt, nicht hinreichend berücksichtigt, um zu versuchen, sein Wesen zu überdenken oder besser zu prüfen. So denkt man wohl hier und da - und ich fürchte, dass dieser Eindruck noch Verbreitung finden wird -, dass die europäische Einigung lediglich eine Sache verwaltungstechnischer bzw. bürokratischer Abstimmung, dass sie nurmehr einem immer kleineren Kreis von Eingeweihten verständlich sei. Demzufolge läge dann also der alleinige Grund für die Zustimmung zu bzw. die Abwendung von Europa in den konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen, die sich bei einer Gruppe von produzierenden, steuerzahlenden oder konsumierenden Bürgern spürbar machen.

Der grosse Fortschritt, der von Europa in den letzten Jahren erzielt wurde, bedeutet jedoch nicht, dass man sich nicht mehr um sein Wesen kümmern sollte. Ja, ich würde geradezu das Gegenteil behaupten: je weiter der Prozess fortgeschritten ist, desto dringender wird diese Fragestellung.

Trotz seiner Vielfältigkeit und trotz seiner Teilungen bildete Europa stets und bildet noch immer eine einzige politische Einheit. Die politische Geschichte dieser Einheit ist also vor allem die Geschichte der vielen Versuche einer inneren Strukturierung. Wir wissen, wie viele Reiche sich in Europa gebildet haben und wie schwierig es ist, die Allianzen zu verstehen, die sowohl innerhalb dieser Reiche als auch zwischen ihnen geschmiedet wurden. Diese bald aufgeklärte, bald gewaltsame, in stetem Wandel begriffene europäische Ordnung hatte als Grundlage immer das Prinzip der Macht, sei es, dass die Stärkeren mit Waffengewalt den Sieg davon getragen hatten und den Unterlegenen ihre Bedingungen aufzwangen, sei es, dass sie in den Allianzen Kräfte sparten, in denen die Wünsche der Schwächeren selten Berücksichtigung fanden. Das geschah nämlich nur, wenn letztere beträchtlichen Widerstand leisteten.

Nach dem Aufbrechen des Eisernen Vorhangs, der letzten Folge einer gewaltsamen Errichtung einer europäischen Ordnung, bietet sich Europa nunmehr eine Gelegenheit, die sich ihm im Laufe seiner Geschichte noch nie geboten hatte, die Gelegenheit nämlich, endlich eine wahrhaft gerechte Ordnung zu begründen, die nicht auf Gewalt, sondern auf Gerechtigkeit gründet und die so den Willen aller Nationen widerspiegelt, aller Gemeinschaften und aller in Europa lebender Individuen.

Darin besteht die erste, grundsätzliche, ja banale Feststellung, die wir im Hinblick auf das sich einigende Europa treffen können. Und trotzdem gibt es nur wenige Bürger, die sich dessen bewusst sind! Und leider allzu wenig Politiker!

Wir stehen an einer der wichtigsten Wegkreuzungen der europäischen Geschichte. Der Weg, den wir schliesslich einschlagen werden, wird vielleicht über das Schicksal zahlreicher künftiger Generationen entscheiden. Mir scheint es, dass man sich dessen bei jeder politischen Entscheidung bewusst sein sollte. Dieses Bewusstsein muss systematisch in das öffentliche Leben eindringen. Im Augenblick verfügen wir noch nicht über das Recht, ein (wahl)politisch, wirtschaftlich oder durch die Staatsräson motiviertes Sonderinteresse einem grundsätzlichen Interesse der kommenden europäischen Generationen unterzuordnen. Ob die Veränderungen in Europa von Dauer sind, wird zu weiten Teilen von seiner inneren Offenheit abhängen, d.h. inwiefern diese Offenheit den einen gestattet, ihrer Eigenart Geltung zu verschaffen, ohne dabei die Freiheit der anderen einzuschränken.

Darüber hinaus wird Europa aus der Gelegenheit, die ihm da geboten wird, nur dann Nutzen ziehen können, wenn es für alle offen bleibt. Die Aufnahme eines Beitrittskandidaten darf, sobald er die geforderten Bedingungen, d.h. die Achtung der diversen Gemeinschaftsnormen, erfüllt, durch nichts hinausgezögert werden. Sollte man zweierlei Mass anlegen, d.h. eine Politik misstrauischer Zurückhaltung gegenüber den neuen Demokratien verfolgen, aus Angst, sie könnten ein allzu grosses Stück des Kuchens ergattern, oder auch aus Furcht vor dem Neuen, dann wird sich Europa erneut spalten. Diese neuerliche Spaltung würde viel ernsthaftere Beunruhigung auslösen als das Neuartige der postkommunistischen Demokratien. Im übrigen sollten sich die westeuropäischen Staaten, denen dies entgangen ist, zwei Dinge ins Gedächtnis rufen: zum einen die historische Mitverantwortung des Westens gegenüber einer Hälfte Europas, die ihm allzu lange entrissen war; zum anderen wiegen die grosse Hoffnung auf dauerhaften Frieden und Sicherheit sowie die Bedeutung der materiellen Wirtschaftssituation, die daraus entsteht, fraglos eventuelle und im übrigen vorübergehende Opfer auf.

Eine Europäische Union, die diesen Namen verdient, muss sich dagegen auflehnen, allmählich ins Abseits bzw. in ein neuerliches europäischen Unglück zu geraten. Im Gegenteil: sie muss die einzige vernünftige Gelegenheit ergreifen, die sich ihr bietet, sie muss zu einer wahrhaft europäischen, d.h. paneuropäischen Vereinigung werden.

Das ist eine Richtung, die es, glaube ich, verdient, eingeschlagen zu werden. Ich glaube ebenfalls, dass die Bürger und die derzeitigen europäischen Politiker begreifen sollten, dass es voraussichtlich Schwierigkeiten im Alltag geben wird, die wir im Interesse der Zukunft hinnehmen müssen. Wer die überzeitliche Dimension der europäischen Einigung nicht verstanden hat, hat das Wesentliche des Europagedankens nicht verstanden.

Dies führt nun zum Kernproblem der Überlegung, nämlich zu der Frage nach der Identität bzw. nach dem Wesen Europas.

Wie definiert sich Europa?

Für die Zukunft ist es notwendig, die Rolle zu bestimmen, welche die europäische Kultur, Gedankenwelt und Zivilisation spielen wird. Europa ist ein Raum, in dem verschiedene Quellen, vor allem der Antike, des Judentums und der christlichen Welt in einer einzigen historischen Bewegung in bewundernswerter Weise zusammenfliessen. Verglichen mit anderen Kulturen ausserhalb Europas, unterscheidet sich diese Bewegung durch zahlreiche besondere Merkmale. Das spezifischste dieser Merkmale besteht in einer neuartigen oder besser in einer anderen Zeitvorstellung, so als wolle die europäische Tradition die Zeit - zuerst in Gestalt der Heilsgeschichte, sodann in Form des Fortschrittsgedankens - vor allem auch als Möglichkeit der Bewegung begreifen, als Aufforderung zum Fortschreiten vom Alten zum Neuen, vom Schlechteren zum Besseren. Der Mensch, der sich solcherart mit der europäischen Zeit konfrontiert sieht, kann sich sicher sein, die Welt in ihrer ganzen Dimension besser zu verstehen. Er empfindet die Verpflichtung, sie im Rahmen seiner Kenntnisse unablässig zu vervollkommnen, für die Verbreitung seines Wissens und Handelns zugunsten eines besseren Lebens Sorge zu tragen. Bewegung, Entwicklung, Fortschritt, Veränderung: das sind seine Elemente. Er begreift sein Wissen als universell. Da er aber auch eine universelle Verantwortung verspürt, glaubt er sich dazu berechtigt, seine Ideen und seinen Fortschritt auf der ganzen Welt zu verbreiten, so als wäre dem Wesen der europäischen Kultur selbst bzw. der Natur der Beziehungen Europas zur Welt die Grundbedingung zu einer Ausdehnung eingegeben. Das ist alles in allem nachvollziehbar. Die Entwicklung strebt nach einer Vorrangstellung der Technik, die selbst wiederum eingesetzt werden will - ob nun als Mittel zur Eroberung oder als Mittel zur Verteidigung, wird dabei zu einer nebensächlichen Frage. Das Konzept der Bewegung verwandelt sich in eine physische Bewegung durch den Raum. Hinter dem europäischen Geist verbirgt sich also eine fatale Ambivalenz: einerseits das phantastische Erblühen des rationalen Wissens und infolgedessen die wachsende Achtung vor der menschlichen Person und ihren Rechten, andererseits aber ein tief innewohnender Expansionismus. Das für Europa typische Gefühl, für die Weltgeschicke verantwortlich zu sein, trägt demnach - paradoxer-, aber auch logischerweise - Züge anmassender Allwissenheit, die sich als unfähig erweist, die Welt der Anderen auch nur in ihren gröbsten Zügen zu begreifen.

Heute wird unser Planet von einer einzigen technizistischen Zivilisation bevölkert, deren kulturelle und ideologische Wurzeln nun allerdings nach Europa zurückführen. All ihre Wunder, all ihre erschreckenden Widersprüche können als das Ergebnis oder die Konsequenz der ursprünglichen moralischen Grundsteinlegung Europas erklärt werden. Und wenn die anderen Traditionskulturen ihre Stimme erheben und immer lauter ihre Anerkennung fordern, so ist das nur eine natürliche Reaktion auf das grosse Gleichheitswerk, das von unserem Kontinent ausgehend die gesamte Welt unterworfen hat.

Daraus ergibt sich für mich die folgende Einsicht, dass, wenn sich Europa vor noch nicht allzu langer Zeit damit zufrieden gab, sich gegenüber dem Kommunismus als Raum der Freiheit, des Schutzes der Menschenrechte und der Garantie einer sich entfaltenden Zivilisation zu definieren, es heute hingegen feststeht, dass es sich dabei lediglich um einen Vorwand handelte, der das Wesentliche, den hauptsächlichen Bezugspunkt und die wirkliche Substanz Europas doch nicht zu verbergen vermochte: d.h. die moderne, weltweite Zivilisation als Ganzes. Europa war dabei, als diese Zivilisation entstand, über Jahrhunderte hinweg bildete es deren Antriebskraft bis zu dem Zeitpunkt, als diese Zivilisation Übergewicht erlangte und sich chaotisch weiterentwickelte.

Ich denke nicht, dass Europa, so wie es sich gerade bildet, seine Substanz anders suchen und wiederfinden kann als durch ein Überdenken seines Verhaltens, d.h. dadurch, dass es die Zügel dieser Zivilisation, deren Niedergang es jahrhundertelang beschleunigt hat, wieder in die Hand nimmt.

Es lässt sich leicht sagen, worin dieses neue Verhalten bestehen soll. Ausgesprochen schwierig ist es hingegen, es wirklich zu verfolgen. Ich möchte gleichwohl darauf zu sprechen kommen.

Mit seiner schweren Last der Vergangenheit aus Ruhm und Leid scheint es mir, als stünde es Europa zuallererst zu, der heutigen Welt vor Augen zu führen, wie man allen Gefahren, allen Bedrohungen und Schrecknissen begegnen muss, die ihr noch bevorstehen. Wer ausser der Wiege der Zivilisation eignete sich besser dazu, ihr zu zeigen, wie sich ihre ambivalente Entwicklung umkehren lässt? Wäre eine solche Herausforderung nicht eine unbestreitbare Vollendung dieses Gefühls universeller Verantwortung in Europa? Wenn Europa schon auf der Suche nach einer Bestimmung, einer historischen Mission, einer kraftvollen Leitidee seiner Einigung ist, dann wäre dies in meinen Augen nur schwer anderswo möglich als auf dem eben erwähnten Gebiet.

Ich fordere keineswegs, dass Europa seine Geschichte, seine Traditionen, seine geistigen Wurzeln und die Grundprinzipien seiner Zivilisation verleugnet.

Im Gegenteil: Europa muss sich wieder die Form vergegenwärtigen, die es zu Beginn seiner kulturellen Tradition angenommen hatte, d.h. die Vorstellung einer Verantwortung für die Welt. Es geht dabei nun gerade nicht darum, anderen mit Anmassung seinen Glauben, seine Meinung aufzuzwingen. Noch weniger geht es um einen hochnäsigen Anthropozentrismus des Menschen gegenüber der Natur! Es handelt sich um etwas ganz anderes: um den demütigen Weg des Beispiels. Ist das Opfer Christi des Erlösers nicht gerade die Inkarnation des Grundsatzes, nach dem man bei sich selbst zu beginnen habe, wenn man die Welt verändern möchte?

Die Zeit, als Europa Lehren erteilte und über die Welt herrschte, ist endgültig Teil der Vergangenheit, genauso wie die Zeit, als es seiner Kultur als einziger, wahrer und bester Kultur Geltung verschaffte. Ich bin hingegen der festen Überzeugung, dass der Augenblick gekommen ist, wo Europa sich Klarheit verschaffen, sich domestizieren, sich verwandeln muss mit eben jener Demut, die ehemals sein geistiges Wappen zierte. Wenn es anderen als Vorbild dient, wenn es sie beeinflusst, umso besser. Doch dürfen wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen, wir haben die Pflicht, zu handeln.

Goldene Kälber anzubeten, sich bei jedem Schritt vor ihren Herren zu krümmen, alles dem Diktat der Werbung und den Medien zu unterwerfen, allen nur möglichen und vorstellbaren Innovationen im Bereich der Konsumgüter in die Falle zu gehen, die als einzige dauerhafte Folge den Raubbau an den natürlichen Ressourcen und die Verschmutzung unserer Atmosphäre zeitigen, stellt nun wirklich keine Unabänderlichkeit dar. Es gibt keinen Grund, den Sinn allen menschlichen Handelns in dem steten Anstieg des Bruttoinlandsprodukts zu sehen!

Wir wissen sehr genau um die Bedrohungen, die auf der Menschheit lasten, wenn diese sie nicht in den Griff bekommt und ihrer Tatenlosigkeit ein Ende setzt. Zu diesem Thema sind hunderte von Büchern geschrieben worden, und es wäre im übrigen durchaus verwunderlich, wenn so neugierige Menschen wie unsere Zeitgenossen nichts davon wissen sollten und sich nicht voll und ganz über die Alternativen zu diesen Geisseln der Zivilisation im Klaren wären. Das Problem besteht heute nicht so sehr in einer Unkenntnis der Gefahren, die die Welt bedrohen, oder der Mittel, wie wir ihnen begegnen können, sondern in unserer Unfähigkeit zur Reaktion. Wir sind allzu sehr mit unseren unmittelbaren Interessen beschäftigt und dadurch praktisch unfähig, daran zu denken, was morgen sein wird oder in hundert Jahren. Kurzum: Wir haben die Fähigkeit verloren, die Dinge aus der Perspektive der Ewigkeit, der Geschichte des Seins und seines Gedächtnisses zu betrachten.

Was ist an dieser Haltung wirklich europäisch? Europäisch im edlen Wortsinn? Nichts. Im Gegenteil: sie steht zu den Ideen, die die Grundlagen der europäischen Zivilisation bilden, in krassem Widerspruch.

Natürlich hat die geistige Bewegung Europas über ihre interne Enwicklungslogik zu der jetzigen, weltweiten, technizistischen Konsumzivilisation geführt, die ihrer eigenen Zerstörung entgegengeht, aber paradoxerweise liegt es auch aus einer ganzen Reihe von Gründen in der Macht Europas, diese Situation umschlagen zu lassen und sich sozusagen selbst zu übertreffen. Vergessen und verborgen schlummert das Potential zu einer solchen Erhöhung in seinen eigenen geistigen Grundlagen.

Die Bestimmung Europas im Zusammenhang mit der aktuellen Zivilisation - und damit auch der Grundgedanke einer Einigung - darf nicht, wie es augenblicklich zu beobachten ist, in etwas Neuem, Unbekannten liegen. Sie lässt sich einfach aus einer neuen Lektüre der uralten europäischen Bücher, aus einer neuartigen Interpretation ihrer Bedeutung gewinnen.

Vor fünf Jahren starb ein litauischer Jude, der in Deutschland studiert hatte, um dann ein berühmter französischer Philosoph zu werden. Sein Name war Emmanuel Levinas. Seiner Lehre zufolge, die darin dem Geist der alten europäischen Traditionen - in diesem Fall wohl der jüdischen Tradition - entspricht, entsteht das Gefühl der Verantwortung für diese Welt in dem Augenblick, wo wir das Gesicht des Anderen betrachten.

Ich bin der Ansicht, dass sich Europa heute genau diese Geistestradition wieder in Erinnerung rufen sollte. So wird es das Andere entdecken, sowohl in dem umliegenden Raum als auch in allen anderen Teilen der Welt, um dieser Grundverantwortung gerecht zu werden, die niemals mehr in den dünkelhaften Zügen eines Eroberers in Erscheinung treten wird, sondern vielmehr mit dem demütigen Antlitz dessen, der sich das Kreuz der Welt auf seine Schultern lädt.

Sollte jemand diese Verantwortung mit einer neuartigen Form messianischen Hochmutes gleichsetzen wollen, dann müssten wir nur mehr unser Gewissen befragen.

* * *

Im Anschluss an diese ein wenig abstrakten Überlegungen würde ich abschliessend gerne auf etwas Konkretes zu sprechen kommen, das die Europäische Union im Sinne meiner vorhergehenden Ausführungen in Angriff nehmen könnte.

Wenn wir nicht länger wünschen, dass die Europäische Union als ein allzu komplexes Verwaltungsunternehmen auftritt, dessen Bedeutung lediglich von einer begrenzten Kaste von Eurospezialisten verstanden wird, wenn wir sie - so wie sie es selbst mehrfach angekündigt hat - bürgernäher wünschen, sollte sie in meinen Augen die Ausarbeitung eines Grundgesetzes anregen. Darunter verstehe ich eine nicht unbedingt sehr lange, dafür aber allgemeinverständliche Verfassung mit einer feierlichen Präambel, in welcher der Sinn und der Gedanke der Union knapp umrissen wird, bevor dann die verschiedenen Institutionen, ihre wechselseitigen Beziehungen und ihre Kompetenzen bestimmt werden. Dabei muss nicht unbedingt etwas Neues vorgelegt werden, es genügt, unter den mehreren Hundert Seiten des bereits bestehenden Vertragswerks das Nötige auszuwählen und daraus ein Ganzes zu formen. Das Verbleibende würde weiterhin Gültigkeit beanspruchen und sich weiterentwickeln, oder aber es würde sich unter der Last der Gesetze und Normen auf die ein oder andere Art verändern, ohne dass die Kinder Europas verpflichtet wären, sich in der Schule damit auseinanderzusetzen. Eine Europäische Verfassung müssten sie allerdings kennen. Ich weiss nicht, was ihre Lehrer ihnen heute über die Union zu erzählen haben, aber ich denke nicht, dass es die Verträge von Paris, Rom, Maastricht oder Amsterdam betrifft. Denn die armen Kinder würden dann das ganze Jahr über damit zubringen, die Unterlagen zu wälzen und die in einem Vertrag modifizierten Absätze mit den ursprünglichen Absätzen des vorangegangenen Vertrages bzw. mit den modifizierten Absätzen des darauf folgenden zu vergleichen.

Was die Institutionen der Union betrifft, so glaube ich, dass die äusseren Umstände früher oder später durchaus im Sinne meiner vorhergehenden Folgerungen die Einrichtung eines Zweikammersystems wie in den klassischen Föderationen notwendig machen werden. Neben dem bestehenden Europäischen Parlament, dessen Struktur die Grösse der Mitgliedsländer wiederspiegelt, müsste ein zweites, kleineres, nicht direkt gewähltes Organ treten, in das jedes Parlament der Mitgliedsstaaten, sagen wir, zwei Abgeordnete entsendet. In dieser zweiten Kammer hätte die Stimme der kleinen und der grossen Mitgliedsländer dasselbe Gewicht. Welche Gesetze von beiden Kammern und welche von der ersten Kammer beschlossen würden, würde - vorzugsweise in der Verfassung - präzise definiert werden. Meiner Ansicht nach würde diese Lösung mehr als nur ein ungelöstes Problem, wie z.B. die Frage nach der nationalen Repräsentation innerhalb der Kommission, aus der Welt schaffen. Ich denke, dass diese letzte, im wesentlichen exekutive Institution keine Länderquoten einführen sollte. Vor allem nach der Erweiterung wäre es nicht mehr notwendig, dass alle Mitgliedsländer dort vertreten sind; die politischen Fachkompetenzen der Kommissare bekämen dadurch nur ein grösseres Gewicht. Die Interessen und die Meinungen der verschiedenen Staaten könnten und sollten von dem Europäischen Rat und der zweiten Kammer des Europäischen Parlaments hinreichend vertreten sein.

Daraus ergibt sich, dass ich allgemein gesprochen eher den Weg der Parlamentarisierung und der progressiven Föderalisierung empfehlen würde als den Weg der internationalen Vertragsabschlüsse sowie der auf der Grundlage dieser Verträge entwickelten Institutionen und Instrumente. Auf den ersten Blick mag das überraschend erscheinen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass der von mir empfohlene Weg eine grössere Rücksichtnahme auf die Wünsche der verschiedenen Nationen in sich birgt und auch deren Identität stärker hervorhebt. Der andere Weg würde nämlich zu der Einrichtung unzähliger, demokratisch nicht legitimierter Bürokratien führen, die sich folglich auch der Kontrolle durch die Bürger der verschiedenen Länder entziehen würden.

Eine Erklärung, eine Charta oder auch eine Verfassung könnte in meinen Augen entscheidend dazu beitragen, dass sich jeder Europäer der Bedeutung der europäischen Einigung bewusst wird, der eventuellen Opfer, die er wird bringen müssen, und auch des Wesens dieses ausserordentlichen politischen Gebildes sowie seiner Funktionsweise.

Es steht mir gewiss nicht zu, mich zum Anwalt einer Verfassung, von Gesetzen und Erklärungen, von Institutionen und Kompetenzen zu erheben, schon gar nicht gegenüber einem Land wie Frankreich, wo die Geburtsstätte des Rationalismus und der Aufklärung liegt und wo die Verfassungsrechte der Bürger mehrfach blutig erstritten wurden. Dennoch denke ich auch weiterhin, dass es in unserer ereignisreichen Welt Wichtigeres gibt.

Das Wichtigste findet sich anderswo, nämlich in dem Geist und der moralischen Grundlage, aus der die verschiedenen Institutionen und deren Gründungsakte entstanden sind.

Als Repräsentant eines Landes, das die Greuel eines totalitären Systems erlitten hat und das noch immer darunter leidet, möchte ich dafür plädieren, dass für den europäischen Einigungsprozess die ungewöhnliche Verbindung von zwei grundlegenden, allerdings allzu oft preisgegebenen Traditionswerten Europas als Angelpunkt gewählt wird: Demut und Verantwortungsbewusstsein.



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