Das Schicksal
der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität
(ESVI) schwankte stark seit Mitte der 80er Jahre, als die WEU als
europäische Antwort auf die Einseitigkeit der Reagan-Regierung
aktiviert worden war. Dabei haben Höhepunkte (Hague-Plattform
1987, Einrichtung der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik
(GASP) 1991 und schliesslich der Berliner Gipfel 1996) und Tiefpunkte
(Golfkrise 1990/91, das Debakel in Bosnien 1992-95 sowie das Veto
Grossbritanniens gegen die Verschmelzung von WEU und EU 1997) einander
abgewechselt. Nach dem Französisch-Britischen Gipfel in Saint-Malo
im Dezember 1998 und der sogenannten Blair-Initiative"
zur Europäischen Sicherheitspolitik scheint die Europäische
Verteidigungsidentität wieder eine bessere Zukunft zu haben.
Viel wird nun von der Reaktion Deutschlands abhängen.
Ein grosser
Teil des Problems waren die asymmetrischen, einseitigen Beziehungen
zwischen Paris, Bonn und London. 1991 entstand die GASP als politisches
Ziel auf Initiative von Mitterrand und Kohl. Doch eine erfolgreiche
Europäische Verteidigungsidentität - militärisch
betrachtet - erfordert eigentlich vor allem eine enge Zusammenarbeit
zwischen Paris und London. Seit 1947 besteht das Problem darin,
dass Frankreich und Grossbritannien diametral entgegengesetzte Vorstellungen
über die voraussichtlichen Auswirkungen einer glaubwürdigen
Europäischen Verteidigungsidentität auf die atlantischen
Beziehungen hatten. Frankreich glaubte, dass eine solche Entwicklung
mittels einer Lastenverteilung mit der Stärkung der Atlantischen
Allianz vereinbar ist. Grossbritannien glaubte auf der anderen Seite,
dass jede Annäherung an eine eigenständige Europäische
Sicherheitsordnung einen neuen Isolationismus der Vereinigten Staaten
provozieren und zum Kollaps der NATO führen würde. Beide
Länder hatten jedoch auch ähnlich unterschiedliche Auffassungen
bezüglich der WEU. Grossbritannien schätzte die WEU, weil
sie es dem Vereinigten Königreich erlaubte, als Mitglied in
einem rein Europäischen Forum aufzutreten, gleichzeitig aber
weiterhin der Atlantischen Allianz absoluten Vorrang einräumen
konnte. Frankreich schätzte die WEU, weil sie als eine Art
Europäische Alternative zur NATO betrachtet werden konnte und
es Frankreich auf diese Weise gestattete, seine militärischen
Verbindungen mit den NATO-Staaten aufrecht zu erhalten und gleichzeitig
einem Europäischen Rahmen Vorrang geben konnte. Bonn versuchte
traditionell mit beiden Positionen gemeinsame Sache zu machen.
Die zentrale
Bedeutung der WEU für die ungeteilte Europäische Verteidigungsidentität
wurde durch die unendlichen Debatten im Rahmen der Regierungskonferenz
von Maastricht 1996 und der Reform der NATO praktisch als selbstverständlich
angenommen. Dabei ignorierte diese zentrale Sichtweise immer zwei
Grundprobleme. Das Erste - politischer Art - war die langanhaltende
Verweigerung Grossbritanniens, der Europäischen Union eine
ernsthafte Verteidigungs- und Sicherheitsaufgabe zu übertragen.
Das Zweite - militärischer Art - war das traditionell französische
Ziel der Schaffung einer Europäischen, von der NATO unabhängigen
militärischen Einheit. Beide Probleme schienen durch den NATO-Gipfel
in Brüssel im Januar 1994, der schliesslich für die Entwicklung
der Europäischen Verteidigungsidentität grünes Licht
gab, überwunden. Das Berliner Ministertreffen im Juni 1996
schien sich schliesslich dem Triumph der Europäischen Verteidigungsidentität
verschrieben zu haben.
Nun blieben
die Grundprobleme aber bestehen. Im Vorfeld zu diesem Berliner Ministertreffen
übte Grossbritannien, das dabei stark von Deutschland unterstützt
wurde, Druck auf Frankreich aus, seine Rückkehr in die NATO
als Preis für eine Europäische Verteidigungsidentität
zu akzeptieren. Zur selben Zeit verlangte Frankreich, unterstützt
von Deutschland, Grossbritannien solle die Fusion der WEU und der
EU als logische Folge der Europäischen Verteidigungsidentität
akzeptieren. Tatsächlich waren, wie das Jahr 1997 beweisen
sollte, weder Grossbritannien noch Frankreich wirklich auf diesen
Extraschritt" und die Aufgabe ihrer traditionellen Positionen
vorbereitet. Grossbritannien legte sein Veto gegen die Verschmelzung
der WEU mit der EU ein, und Frankreich zog sich von der Komplexität
der NATO-Integration zurück. Im Herbst 1997 schien die Europäische
Verteidigungsidentität dann ein Kandidat für die Autopsie,
während die NATO-Osterweiterung (die andere Entscheidung, die
auf dem NATO-Gipfel im Januar 1994 getroffen worden war) die einzige
Vorstellung auf der politischen Bühne wurde.
Als jedoch
Tony Blair im Verlauf des Jahres 1998 die öde Wildnis der inadäquaten
Sicherheitspolitik Europas im Licht der Albanien- und Kosovokrise
betrachtete, kam er zu der Auffassung, dass die ESVI ein wichtiges
Ziel Europäischer Politik sei. Vor der wachsenden Besorgnis,
als Führung in Europa betrachtet zu werden, ohne jedoch an
der EWU teilnehmen zu können, wurde sich die Britische Regierung
darüber klar, dass die GASP und die Europäische Verteidigungsidentität
der günstigste Weg zu einer solchen Führungsrolle wären.
Darüber hinaus war Blair zunehmend daran interessiert, den
industriellen Zusammenschluss zu der integrierten Europäischen
Luftfahrt- und Verteidigungsgesellschaft (ELVG) voranzutreiben,
der 1998 das Ziel intensiver Verhandlungen zwischen British Aerospace,
DASA, Aerospatiale-Matra und verschiedenen anderen Grossfirmen war.
Das Ergebnis war der Durchbruch auf dem Poertschachter Gipfel in
Österreich am 24./25. Oktober, der zu dem unvorhergesehenen
Treffen der EU-Verteidigungsminister in Wien (3./4.11.) und dem
Französisch-Britischen Gipfel in Saint-Malo (4./5.12.) führte.
Auf der Blair-Initiative"
basierend brachte die Saint-Malo-Erklärung eine bedeutende
Übereinstimmung zwischen Grossbritannien und Frankreich in
fünf Schlüsselfragen, welche die Europäische Verteidigungsidentität
untermauern:
- Die GASP-Bestimmungen
des Vertrages von Amsterdam werden jetzt in aller Form aktiviert
werden, damit Europa seine Rolle auf internationaler Ebene
ausfüllen kann". Grossbritannien machte dabei geltend,
dass die Entwicklung der GASP - und vor allem ihrer sicherheitspolitischen
Dimension - mit dem entsprechenden politischen Willen in London
unterstützt werden wird. Präsident Chirac betonte, dass
zur Konsolidierung der GASP die Französisch-Britischen Beziehungen
in den Mittelpunkt gerückt werden.
- Damit die
Europäische Verteidigungsidentität Wirklichkeit werden
kann, muss die EU über die Fähigkeit zu eigenständigem
Handeln und glaubwürdige Militärkräfte verfügen.
Grossbritannien gab so seinen langandauernden Widerstand gegen die
französischen Versuche zur Schaffung einer eigenständigen
Europäischen Einheit auf, obwohl dabei ein beträchtlicher
Bereich für Missverständnisse über die genaue Bedeutung
(sowohl militärisch als politisch) der Eigenständigkeit"
bleibt.
- Die EU hat
deshalb die erforderlichen Analyse- und Entscheidungsstrukturen
zu schaffen, damit diese in die Lage versetzt werden, bei Sicherheitskrisen
klare politische Aussagen zu machen und, falls notwendig, militärische
Antworten anzuordnen. Hier verpflichteten sich beide, Grossbritannien
und Frankreich, zur Schaffung einer neuen EU-Struktur (ein Aussen-
und Verteidigungsministerrat?), mit der die Europäische Verteidigungsidentität
geführt werden soll.
- Die Europäische
Verteidigungsidentität wird - durch die Entwicklung der Fähigkeit
zu Petersberg"-Missionen - in keiner Weise die Hauptfunktion
der kollektiven Sicherheit (Art. 5) der NATO in Frage stellen, aber
sie wird andererseits, zur Vitalität einer modernisierten
Atlantischen Allianz beitragen". Frankreich akzeptierte in
diesem Absatz, dass die Europäische Verteidigungsidentität
eine gestärkte NATO erfordert, auch wenn dabei - einmal mehr
- ein grosser Bereich für Uneinigkeit über die strukturellen
Details der NATO-Modernisierung bleibt - besonders seit der französische
Text der Übereinkunft lieber das Wort erneuert"
als modernisiert" verwendet.
- Schliesslich
verlangt eine glaubwürdige Europäische Verteidigungsidentität
verstärkte Streitkräfte und eine starke und wettbewerbsfähige
Verteidigungsindustrie und -technologie". Der kürzlich
erfolgte Kauf von Marconi durch British Aerospace, anstatt der vorhergesagten
Fusion mit DASA, hat die allmähliche Konstruktion einer ELVG
aber wieder durcheinander gebracht.
Drei bedeutsame
Schlussfolgerungen können aus all diesen Entwicklungen gezogen
werden.
Erstens bedeutet
die Entscheidung der britischen Regierung, einen sicherheitspolitischen
Auftrag der EU zu akzeptieren und das Ziel einer eigenständigen"
Befähigung der Europäischen Verteidigungsidentität
zu billigen, einen entscheidenden Durchbruch. Trotz der ständigen
Tendenz Londons, sich auf die Seite der USA in Sachen Irak zu stellen,
ist die neu entdeckte Begeisterung für die ESVI eine Verpflichtung,
an die Grossbritannien gebunden werden kann. Bonns Nähe zu
Paris sowohl hinsichtlich der Zielsetzung der ESVI als auch bezüglich
der Irak-Frage verleihen der deutschen Regierung eine Schlüsselrolle
bei der Schaffung einer genuin Europäischen Sicherheitsidentität.
Zweitens ist
die Anerkennung der zentralen und unersetzlichen Rolle der NATO
durch Frankreich eine bedeutsame Entwicklung, die von Bonn - wieder
einmal - stark gefördert werden kann. Die Logik der Französisch-Britischen
Übereinkunft besteht darin, dass die WEU schrittweise verschwinden
wird und ihre politischen Funktionen von der EU, ihre militärischen
von der NATO übernommen werden. Dies ist genau dieselbe unausgesprochene
Logik, die auch der von Deutschland seit langem vertretenen Position
zu diesen Themen zugrunde liegt.
Drittens wird
für die Zukunft der Verteidigungsindustrie viel davon abhängen,
wie Bonn seine Karten mit Blick auf die britischen und französischen
Bewerber spielen wird.
Obwohl der
jüngste Fortschritt in Richtung ESVI durch eine Französisch-Britische
Initiative vorangebracht wurde, kommt Bonn eine Schlüsselposition
bei der Einflussnahme auf das mögliche Ergebnis zu.
Eigene
Übersetzung des Forum
Veröffentlichungen
- French Diplomacy in Central Europe since 1989 - Oxford,
Berghahn, 1999 (forthcoming).
- France and European Security since 1945: Alliance and Autonomy
from De Gaulle to Miitterand - Oxford University Press, 1999
(forthcoming).
- The European Union and National Defence Policy - (J. Howorth
& A. Menon (eds) - London, Routledge, 1997.
- Europeans on Europe, Transnational Visions of a new continent
- M. Maclean & J. Howorth (eds) - London Macmillan, 1992 (Runner
up in European Information Agency awards for best publication on
Europe, 1992).
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