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• Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität
und der Französisch-Britische "Honeymoon"
In militärischer Hinsicht hängt der Erfolg der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität - ESVI - vor allem von einer engen Kooperation zwischen Paris und London ab. Das Problem besteht darin, dass Frankreich und Großbritannien seit 1947 stets diametral entgegengesetzte Standpunkte hinsichtlich der möglichen Konsequenzen einer glaubwürdigen ESVI auf die atlantischen Beziehungen vertreten haben. Zudem hat Bonn stets eine Strategie verfolgt, mit der beide Positionen hätte vereinbart werden sollen. Gleichwohl haben Frankreich und das Vereinigte Königreich seit der Erklärung von Saint-Malo im Dezember 1998 einen signifikanten Konsens im Hinblick auf die ESVI erzielt. © 1999
Jolyon HOWORTH - Prof. für Europäische Politik an der Univ. Bath, G. B.


Das Schicksal der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) schwankte stark seit Mitte der 80er Jahre, als die WEU als europäische Antwort auf die Einseitigkeit der Reagan-Regierung aktiviert worden war. Dabei haben Höhepunkte (Hague-Plattform 1987, Einrichtung der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) 1991 und schliesslich der Berliner Gipfel 1996) und Tiefpunkte (Golfkrise 1990/91, das Debakel in Bosnien 1992-95 sowie das Veto Grossbritanniens gegen die Verschmelzung von WEU und EU 1997) einander abgewechselt. Nach dem Französisch-Britischen Gipfel in Saint-Malo im Dezember 1998 und der sogenannten „Blair-Initiative" zur Europäischen Sicherheitspolitik scheint die Europäische Verteidigungsidentität wieder eine bessere Zukunft zu haben. Viel wird nun von der Reaktion Deutschlands abhängen.

Ein grosser Teil des Problems waren die asymmetrischen, einseitigen Beziehungen zwischen Paris, Bonn und London. 1991 entstand die GASP als politisches Ziel auf Initiative von Mitterrand und Kohl. Doch eine erfolgreiche Europäische Verteidigungsidentität - militärisch betrachtet - erfordert eigentlich vor allem eine enge Zusammenarbeit zwischen Paris und London. Seit 1947 besteht das Problem darin, dass Frankreich und Grossbritannien diametral entgegengesetzte Vorstellungen über die voraussichtlichen Auswirkungen einer glaubwürdigen Europäischen Verteidigungsidentität auf die atlantischen Beziehungen hatten. Frankreich glaubte, dass eine solche Entwicklung mittels einer Lastenverteilung mit der Stärkung der Atlantischen Allianz vereinbar ist. Grossbritannien glaubte auf der anderen Seite, dass jede Annäherung an eine eigenständige Europäische Sicherheitsordnung einen neuen Isolationismus der Vereinigten Staaten provozieren und zum Kollaps der NATO führen würde. Beide Länder hatten jedoch auch ähnlich unterschiedliche Auffassungen bezüglich der WEU. Grossbritannien schätzte die WEU, weil sie es dem Vereinigten Königreich erlaubte, als Mitglied in einem rein Europäischen Forum aufzutreten, gleichzeitig aber weiterhin der Atlantischen Allianz absoluten Vorrang einräumen konnte. Frankreich schätzte die WEU, weil sie als eine Art Europäische Alternative zur NATO betrachtet werden konnte und es Frankreich auf diese Weise gestattete, seine militärischen Verbindungen mit den NATO-Staaten aufrecht zu erhalten und gleichzeitig einem Europäischen Rahmen Vorrang geben konnte. Bonn versuchte traditionell mit beiden Positionen gemeinsame Sache zu machen.

Die zentrale Bedeutung der WEU für die ungeteilte Europäische Verteidigungsidentität wurde durch die unendlichen Debatten im Rahmen der Regierungskonferenz von Maastricht 1996 und der Reform der NATO praktisch als selbstverständlich angenommen. Dabei ignorierte diese zentrale Sichtweise immer zwei Grundprobleme. Das Erste - politischer Art - war die langanhaltende Verweigerung Grossbritanniens, der Europäischen Union eine ernsthafte Verteidigungs- und Sicherheitsaufgabe zu übertragen. Das Zweite - militärischer Art - war das traditionell französische Ziel der Schaffung einer Europäischen, von der NATO unabhängigen militärischen Einheit. Beide Probleme schienen durch den NATO-Gipfel in Brüssel im Januar 1994, der schliesslich für die Entwicklung der Europäischen Verteidigungsidentität grünes Licht gab, überwunden. Das Berliner Ministertreffen im Juni 1996 schien sich schliesslich dem Triumph der Europäischen Verteidigungsidentität verschrieben zu haben.

Nun blieben die Grundprobleme aber bestehen. Im Vorfeld zu diesem Berliner Ministertreffen übte Grossbritannien, das dabei stark von Deutschland unterstützt wurde, Druck auf Frankreich aus, seine Rückkehr in die NATO als Preis für eine Europäische Verteidigungsidentität zu akzeptieren. Zur selben Zeit verlangte Frankreich, unterstützt von Deutschland, Grossbritannien solle die Fusion der WEU und der EU als logische Folge der Europäischen Verteidigungsidentität akzeptieren. Tatsächlich waren, wie das Jahr 1997 beweisen sollte, weder Grossbritannien noch Frankreich wirklich auf diesen „Extraschritt" und die Aufgabe ihrer traditionellen Positionen vorbereitet. Grossbritannien legte sein Veto gegen die Verschmelzung der WEU mit der EU ein, und Frankreich zog sich von der Komplexität der NATO-Integration zurück. Im Herbst 1997 schien die Europäische Verteidigungsidentität dann ein Kandidat für die Autopsie, während die NATO-Osterweiterung (die andere Entscheidung, die auf dem NATO-Gipfel im Januar 1994 getroffen worden war) die einzige Vorstellung auf der politischen Bühne wurde.

Als jedoch Tony Blair im Verlauf des Jahres 1998 die öde Wildnis der inadäquaten Sicherheitspolitik Europas im Licht der Albanien- und Kosovokrise betrachtete, kam er zu der Auffassung, dass die ESVI ein wichtiges Ziel Europäischer Politik sei. Vor der wachsenden Besorgnis, als Führung in Europa betrachtet zu werden, ohne jedoch an der EWU teilnehmen zu können, wurde sich die Britische Regierung darüber klar, dass die GASP und die Europäische Verteidigungsidentität der günstigste Weg zu einer solchen Führungsrolle wären. Darüber hinaus war Blair zunehmend daran interessiert, den industriellen Zusammenschluss zu der integrierten Europäischen Luftfahrt- und Verteidigungsgesellschaft (ELVG) voranzutreiben, der 1998 das Ziel intensiver Verhandlungen zwischen British Aerospace, DASA, Aerospatiale-Matra und verschiedenen anderen Grossfirmen war. Das Ergebnis war der Durchbruch auf dem Poertschachter Gipfel in Österreich am 24./25. Oktober, der zu dem unvorhergesehenen Treffen der EU-Verteidigungsminister in Wien (3./4.11.) und dem Französisch-Britischen Gipfel in Saint-Malo (4./5.12.) führte.

Auf der „Blair-Initiative" basierend brachte die Saint-Malo-Erklärung eine bedeutende Übereinstimmung zwischen Grossbritannien und Frankreich in fünf Schlüsselfragen, welche die Europäische Verteidigungsidentität untermauern:

- Die GASP-Bestimmungen des Vertrages von Amsterdam werden jetzt in aller Form aktiviert werden, damit Europa seine „Rolle auf internationaler Ebene ausfüllen kann". Grossbritannien machte dabei geltend, dass die Entwicklung der GASP - und vor allem ihrer sicherheitspolitischen Dimension - mit dem entsprechenden politischen Willen in London unterstützt werden wird. Präsident Chirac betonte, dass zur Konsolidierung der GASP die Französisch-Britischen Beziehungen in den Mittelpunkt gerückt werden.

- Damit die Europäische Verteidigungsidentität Wirklichkeit werden kann, muss die EU über die Fähigkeit zu eigenständigem Handeln und glaubwürdige Militärkräfte verfügen. Grossbritannien gab so seinen langandauernden Widerstand gegen die französischen Versuche zur Schaffung einer eigenständigen Europäischen Einheit auf, obwohl dabei ein beträchtlicher Bereich für Missverständnisse über die genaue Bedeutung (sowohl militärisch als politisch) der „Eigenständigkeit" bleibt.

- Die EU hat deshalb die erforderlichen Analyse- und Entscheidungsstrukturen zu schaffen, damit diese in die Lage versetzt werden, bei Sicherheitskrisen klare politische Aussagen zu machen und, falls notwendig, militärische Antworten anzuordnen. Hier verpflichteten sich beide, Grossbritannien und Frankreich, zur Schaffung einer neuen EU-Struktur (ein Aussen- und Verteidigungsministerrat?), mit der die Europäische Verteidigungsidentität geführt werden soll.

- Die Europäische Verteidigungsidentität wird - durch die Entwicklung der Fähigkeit zu „Petersberg"-Missionen - in keiner Weise die Hauptfunktion der kollektiven Sicherheit (Art. 5) der NATO in Frage stellen, aber sie wird andererseits, „zur Vitalität einer modernisierten Atlantischen Allianz beitragen". Frankreich akzeptierte in diesem Absatz, dass die Europäische Verteidigungsidentität eine gestärkte NATO erfordert, auch wenn dabei - einmal mehr - ein grosser Bereich für Uneinigkeit über die strukturellen Details der NATO-Modernisierung bleibt - besonders seit der französische Text der Übereinkunft lieber das Wort „erneuert" als „modernisiert" verwendet.

- Schliesslich verlangt eine glaubwürdige Europäische Verteidigungsidentität verstärkte Streitkräfte und eine „starke und wettbewerbsfähige Verteidigungsindustrie und -technologie". Der kürzlich erfolgte Kauf von Marconi durch British Aerospace, anstatt der vorhergesagten Fusion mit DASA, hat die allmähliche Konstruktion einer ELVG aber wieder durcheinander gebracht.

Drei bedeutsame Schlussfolgerungen können aus all diesen Entwicklungen gezogen werden.

Erstens bedeutet die Entscheidung der britischen Regierung, einen sicherheitspolitischen Auftrag der EU zu akzeptieren und das Ziel einer „eigenständigen" Befähigung der Europäischen Verteidigungsidentität zu billigen, einen entscheidenden Durchbruch. Trotz der ständigen Tendenz Londons, sich auf die Seite der USA in Sachen Irak zu stellen, ist die neu entdeckte Begeisterung für die ESVI eine Verpflichtung, an die Grossbritannien gebunden werden kann. Bonns Nähe zu Paris sowohl hinsichtlich der Zielsetzung der ESVI als auch bezüglich der Irak-Frage verleihen der deutschen Regierung eine Schlüsselrolle bei der Schaffung einer genuin Europäischen Sicherheitsidentität.

Zweitens ist die Anerkennung der zentralen und unersetzlichen Rolle der NATO durch Frankreich eine bedeutsame Entwicklung, die von Bonn - wieder einmal - stark gefördert werden kann. Die Logik der Französisch-Britischen Übereinkunft besteht darin, dass die WEU schrittweise verschwinden wird und ihre politischen Funktionen von der EU, ihre militärischen von der NATO übernommen werden. Dies ist genau dieselbe unausgesprochene Logik, die auch der von Deutschland seit langem vertretenen Position zu diesen Themen zugrunde liegt.

Drittens wird für die Zukunft der Verteidigungsindustrie viel davon abhängen, wie Bonn seine Karten mit Blick auf die britischen und französischen Bewerber spielen wird.

Obwohl der jüngste Fortschritt in Richtung ESVI durch eine Französisch-Britische Initiative vorangebracht wurde, kommt Bonn eine Schlüsselposition bei der Einflussnahme auf das mögliche Ergebnis zu.

Eigene Übersetzung des Forum


Veröffentlichungen

- French Diplomacy in Central Europe since 1989 - Oxford, Berghahn, 1999 (forthcoming).
- France and European Security since 1945: Alliance and Autonomy from De Gaulle to Miitterand - Oxford University Press, 1999 (forthcoming).
- The European Union and National Defence Policy - (J. Howorth & A. Menon (eds) - London, Routledge, 1997.
- Europeans on Europe, Transnational Visions of a new continent - M. Maclean & J. Howorth (eds) - London Macmillan, 1992 (Runner up in European Information Agency awards for best publication on Europe, 1992).



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