Mit dem
ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr ging die lange Periode einer
Zurückhaltung zu Ende, die sich den zivilen Zügen der deutschen
Nachkriegsmentalität eingeprägt hat.
Es ist Krieg. Gewiss, die "Luftschläge" der Allianz wollen etwas
anderes sein als ein Krieg der traditionellen Art. Tatsächlich haben
die "Chirurgie-Präzision" der Luftangriffe und die programmatische
Schonung der Zivilisten einen hohen legitimatorischen Stellenwert.
Das bedeutet die Abkehr von einer totalen Kriegführung, die die
Physiognomie des zu Ende gehenden Jahrhunderts bestimmt hat. Aber
auch wir Halbbeteiligten, denen das Fernsehen den Kosovo-Konflikt
allabendlich serviert, wissen, dass die jugoslawische Bevölkerung,
die sich unter den Luftangriffen duckt, nichts anderes als Krieg
erfährt.
Glücklicherweise fehlen in der deutschen Öffentlichkeit die dumpfen
Töne. Keine Schicksalssehnsucht, kein intellektueller Trommelwirbel
für den guten Kameraden. Während des Golfkrieges ist noch die Rhetorik
des Ernstfalls, die Beschwörung von staatlichem Pathos, von Würde,
Tragik und männlicher Reife gegen eine lautstarke Friedensbewegung
aufgefahren worden. Von beidem ist nicht viel übriggeblieben. Hie
und da noch ein bisschen Häme über den kleinlaut gewordenen Pazifismus
oder die Härteparole "Wir steigen von den Höhen der Moral herab".
Aber nicht einmal dieser Tenor verfängt, denn Befürworter wie Gegner
des Einsatzes bedienen sich einer glasklaren normativen Sprache.
Die pazifistischen Gegner rufen den moralischen Unterschied zwischen
Tun und Lassen in Erinnerung und lenken den Blick auf das Leiden
der zivilen Opfer, die eine noch so zielgenaue militärische Gewaltanwendung
"in Kauf nehmen" muss. Der Appell richtet sich jedoch dieses Mal
nicht an das gute Gewissen hartgesottener Realisten, die die Staatsräson
hochhalten. Er richtet sich gegen den legal pacifism einer rot-grünen
Regierung. An der Seite der alten Demokratien, die von vernunftrechtlichen
Traditionen stärker als wir geformt worden sind, berufen sich die
Minister Fischer und Scharping auf die Idee einer menschenrechtlichen
Domestizierung des Naturzustandes zwischen den Staaten. Damit steht
die Transformation des Völkerrechts in ein Recht der Weltbürger
auf der Agenda.
Der Rechtspazifismus will den lauernden Kriegszustand zwischen souveränen
Staaten nicht nur völkerrechtlich einhegen, sondern in einer durchgehend
verrechtlichten kosmopolitischen Ordnung aufheben. Von Kant bis
Kelsen gab es diese Tradition auch bei uns. Aber heute wird sie
von einer deutschen Regierung zum ersten Mal ernst genommen. Die
unmittelbare Mitgliedschaft in einer Assoziation von Weltbürgern
würde den Staatsbürger auch gegen die Willkür der eigenen Regierung
schützen. Die wichtigste Konsequenz eines durch die Souveränität
der Staaten hindurchgreifenden Rechts ist, wie sich im Falle Pinochets
schon andeutet, die persönliche Haftung von Funktionären für ihre
in Staats- und Kriegsdiensten begangenen Verbrechen.
In der Bundesrepublik beherrschen die Gesinnungspazifisten auf der
einen, die Rechtspazifisten auf der anderen Seite die öffentliche
Auseinandersetzung. Sogar die "Realisten" schlüpfen unter den Mantel
der normativen Rhetorik. Die Stellungnahmen pro und contra bündeln
ja gegensätzliche Motive. Die machtpolitisch Denkenden, die der
normativen Zügelung der souveränen Staatsgewalt grundsätzlich misstrauen,
finden sich Arm in Arm mit Pazifisten wieder, während die "Atlantiker"
aus schierer Bündnistreue ihren Argwohn gegen den regierungsamtlichen
Menschenrechtsenthusiasmus unterdrücken - gegen Leute, die vor kurzem
noch gegen die Stationierung der Pershing II auf die Strasse gegangen
sind. Dregger und Bahr stehen neben Stroebele, Schäuble und Rühe
neben Eppler. Kurzum, die Linke an der Regierung und der Vorrang
normativer Argumente, beides erklärt nicht nur die eigentümliche
Schlachtordnung, sondern den beruhigenden Umstand, dass öffentliche
Diskussion und Stimmung in Deutschland nicht anders sind als in
anderen westeuropäischen Ländern. Kein Sonderweg, kein Sonderbewusstsein.
Eher schon zeichnen sich Bruchlinien ab zwischen Kontinentaleuropäern
und Angelsachsen, jedenfalls zwischen denen, die den Generalsekretär
der UNO zu ihrer Beratung einladen und eine Verständigung mit Russland
suchen, und jenen, die hauptsächlich den eigenen Waffen vertrauen.
Natürlich gehen die USA und die Mitgliedstaaten der Europäischen
Union, die die politische Verantwortung tragen, von einer gemeinsamen
Position aus. Nach dem Scheitern der Verhandlungen von Rambouillet
führen sie die angedrohte militärische Strafaktion gegen Jugoslawien
mit dem erklärten Ziel durch, liberale Regelungen für die Autonomie
des Kosovo innerhalb Serbiens durchzusetzen. Im Rahmen des klassischen
Völkerrechts hätte das als Einmischung in die inneren Angelegenheiten
eines souveränen Staates, das heisst als Verletzung des Interventionsverbots
gegolten. Unter Prämissen der Menschenrechtspolitik soll dieser
Eingriff nun als eine bewaffnete, aber von der Völkergemeinschaft
(auch ohne UN-Mandat stillschweigend) autorisierte Frieden schaffende
Mission verstanden werden. Nach dieser westlichen Interpretation
könnte der Kosovo-Krieg einen Sprung auf dem Wege des klassischen
Völkerrechts der Staaten zum kosmopolitischen Recht einer Weltbürgergesellschaft
bedeuten.
Diese Entwicklung hatte mit Gründung der UNO eingesetzt und war,
nach der Stagnation während des Ost-West-Konflikts, durch den Golfkrieg
sowie durch andere Interventionen beschleunigt worden. Humanitäre
Interventionen sind freilich seit 1945 nur im Namen der UNO und
mit förmlicher Zustimmung der betroffenen Regierung (soweit eine
funktionierende Staatsgewalt vorhanden war) zustande gekommen. Während
des Golfkriegs hat der Sicherheitsrat mit der Einrichtung von Flugverbotszonen
über dem irakischen Luftraum und von "Schutzzonen" für kurdische
Flüchtlinge im Nordirak zwar faktisch in "innere Angelegenheiten"
eines souveränen Staates eingegriffen. Das ist aber nicht explizit
mit dem Schutz einer verfolgten Minderheit vor der eigenen Regierung
begründet worden. In der Resolution 688 vom April 1991 haben sich
die Vereinten Nationen auf das Interventionsrecht berufen, das ihnen
in Fällen der "Bedrohung der internationalen Sicherheit" zusteht.
Anders verhält es sich heute. Das nordatlantische Militärbündnis
handelt ohne ein Mandat des Sicherheitsrats, rechtfertigt aber die
Intervention als Nothilfe für eine verfolgte ethnische (und religiöse)
Minderheit.
Von Mord, Terror und Vertreibung waren im Kosovo schon in den Monaten
vor dem Beginn der Luftangriffe etwa 300 000 Personen betroffen.
Inzwischen liefern die erschütternden Bilder von den Vertriebenentrecks
auf den Routen nach Mazedonien, Montenegro und Albanien die Evidenzen
für eine von längerer Hand geplante ethnische Säuberung. Dass die
Flüchtenden auch wieder als Geiseln zurückgehalten werden, macht
die Sache nicht besser. Obwohl Milosevic den Luftkrieg der NATO
benutzt, um seine elende Praxis bis zum bitteren Ende zu forcieren,
können die niederdrückenden Szenen aus den Flüchtlingslagern den
kausalen Zusammenhang nicht verkehren. Es war schliesslich das Ziel
der Verhandlungen, einen mörderischen Ethnonationalismus zu stoppen.
Ob die Grundsätze der Völkermordkonvention von 1948 auf das, was
jetzt unter der Kuppel des Luftkrieges am Boden geschieht, Anwendung
finden, ist kontrovers. Aber einschlägig sind die Tatbestände, die
als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" aus den Leitsätzen der
Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg und Tokyo ins Völkerrecht
eingegangen sind. Seit kurzem behandelt der Sicherheitsrat auch
diese Tatbestände als "Friedensbedrohungen", die unter Umständen
Zwangsmassnahmen rechtfertigen. Aber ohne Mandat des Sicherheitsrats
können die Interventionsmächte in diesem Fall nur aus den erga omnes
verpflichtenden Grundsätzen des Völkerrechts eine Ermächtigung zur
Hilfeleistung ableiten.
Wie dem auch sei, der Anspruch der Kosovaren auf gleichberechtigte
Koexistenz und die Empörung über das Unrecht der brutalen Vertreibung
haben der militärischen Intervention im Westen eine breite, wenn
auch differenzierte Zustimmung gesichert. Der aussenpolitische Sprecher
der CDU, Karl Lamers, hat die Ambivalenz, die diese Zustimmung von
Anbeginn begleitete, schön zum Ausdruck gebracht: "Also könnte unser
Gewissen ruhig sein. Das sagt uns unser Verstand, aber unser Herz
will nicht recht darauf hören. Wir sind unsicher und unruhig..."
Es gibt mehrere Quellen der Beunruhigung. Im Laufe der letzten Wochen
verstärkten sich die Zweifel an der Klugheit einer Verhandlungsstrategie,
die keine andere Alternative als den bewaffneten Angriff zuliess.
Denn Zweifel bestehen an der Zweckmässigkeit der Militärschläge.
Während in der jugoslawischen Bevölkerung bis tief in die Reihen
der Opposition hinein die Zustimmung zum trotzig halsstarrigen Kurs
von Milosevic wächst, kumulieren sich ringsum die bedrohlichen Nebenfolgen
des Krieges. Die angrenzenden Staaten Mazedonien und Albanien sowie
die Teilrepublik Montenegro geraten, aus verschiedenen Gründen in
den Strudel der Destabilisierung; im atomar hochgerüsteten Russland
setzt die Solidarität breiter Kreise mit dem "Brudervolk" die Regierung
unter Druck. Vor allem wachsen die Zweifel an der Verhältnismässigkeit
der militärischen Mittel. Hinter jedem "Kollateralschaden", jedem
Eisenbahnzug, der unbeabsichtigt mit einer zerbombten Donaubrücke
in die Tiefe gerissen wird, hinter jedem Traktor mit flüchtenden
Albanern, jedem serbischen Wohngebiet, jedem zivilen Ziel, das ungewollt
dem Raketenbeschuss zum Opfer fällt, kommt nicht irgendeine Kontingenz
des Krieges zum Vorschein, sondern ein Leiden, das unsere" Intervention
auf dem Gewissen hat."
Fragen der Verhältnismässigkeit sind schwierig zu entscheiden. Hätte
die NATO die Zerstörung des staatlichen Rundfunks nicht eine halbe
Stunde vorher ankündigen sollen? Auch die beabsichtigten Zerstörungen
- die brennende Tabakfabrik, das lodernde Gaswerk, die zerbombten
Hochhäuser, Strassen und Brücken, die Ruinierung der wirtschaftlichen
Infrastruktur eines durch das UN-Embargo ohnehin geschädigten Landes
-steigern die Unruhe. Jedes Kind, das auf der Flucht stirbt, zerrt
an unseren Nerven. Denn trotz des überschaubaren kausalen Zusammenhangs
verheddern sich jetzt die Fäden der Verantwortung. Im Elend der
Vertreibung bilden die Folgen der rücksichtslosen Politik eines
Staatsterroristen mit den Nebenfolgen der Militärschläge, die ihm,
statt das blutige Handwerk zu legen, auch noch einen Vorwand lieferten,
ein schwer entwirrbares Knäuel.
Schliesslich die Zweifel am diffus gewordenen politischen Ziel.
Gewiss, die fünf Forderungen an Milosevic gehorchen denselben makellosen
Prinzipen, nach denen das Dayton-Abkommen für ein liberal verfasstes
rnultiethnisches Bosnien konstruiert worden ist. Die Kosovo-Albaner
hätten kein Recht auf Sezession, wenn nur ihr Anspruch auf Autonomie
innerhalb Serbiens erfüllt würde. Der grossalbanische Nationalismus,
der durch eine Abspaltung Auftrieb erhielte, ist ja keinen Deut
besser als der grossserbische, den die Intervention eindämmen soll.
Inzwischen machen die Wunden der ethnischen Säuberung mit jedem
weiteren Tag die Revision des Zieles einer gleichberechtigten Koexistenz
der Volksgruppen unausweichlicher. Aber eine Teilung des Kosovo
wäre erst recht eine Sezession, die niemand wollen kann. Zudem würde
die Einrichtung eines Protektorats eine Veränderung der Strategie
erfordern, nämlich einen Bodenkrieg und die jahrzehntelange Präsenz
von friedensichernden Streitkräften. Wenn diese unvorhergesehenen
Konsequenzen eintreten sollten, würde sich retrospektiv die Frage
nach der Legitimation des Unternehmens noch einmal ganz anders stellen.
In den Verlautbarungen unserer Regierung ist ein gewisser schriller
Ton, ein Overkill an fragwürdigen geschichtlichen Parallelen - so
als müssten Fischer und Scharping mit ihrer hämmernden Rhetorik
eine andere Stimme in sich selbst übertönen. Ist es die Furcht,
dass das politische Scheitern des militärischen Einsatzes die Intervention
in ein ganz anderes Licht rücken, gar das Projekt der durchgreifenden
Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen auf Jahrzehnte zurückwerfen
könnte? Würde dann nicht von dem Polizeieinsatz", den die NATO hochherzig
für die, Völkergemeinschaft unternimmt, ein ordinärer Krieg übrigbleiben,
sogar ein schmutziger Krieg der den Balkan nur noch in grössere
Katastrophen gestürzt hat? Und wäre das nicht Wasser auf die Mühlen
eines Carl Schmitt, der es immer schon besser wusste: "Wer Menschheit
sagt, will betrügen"? Er hat seinen Antihumanismus auf die berühmte
Formel gebracht: "Humanität, Bestialität". Der bohrende Zweifel,
ob am Ende der Rechtspazifismus selbst das falsche Projekt ist,
ist unter den Quellen der Beunruhigung die tiefste.
Der Krieg im Kosovo berührt eine grundsätzliche, auch in Politikwissenschaft
und Philosophie umstrittene Frage. Der demokratische Verfassungsstaat
hat die grosse zivilisatorische Leistung einer rechtlichen Zähmung
der politischen Gewalt auf der Grundlage der Souveränität völkerrechtlich
anerkannter Subjekte erreicht, während ein "weltbürgerlicher" Zustand
diese Unabhängigkeit des Nationalstaats zur Disposition stellt.
Stösst der Universalismus der Aufklärung hier auf den Eigensinn
einer politischen Gewalt, der unauslöschlich der Antrieb zur kollektiven
Selbstbehauptung eines partikularen Gemeinwesens eingeschrieben
ist? Das ist der realistische Stachel im Fleisch der Menschenrechtspolitik.
Auch die realistische Denkschule nimmt natürlich den Strukturwandel
jenes mit dem Westfälischen Frieden von 1648 entstandenen Systems
unabhängiger Staaten zur Kenntnis: die Interdependenzen einer immer
komplexer werdenden Weltgesellschaft; die Grössenordnung von Problemen,
welche die Staaten nur noch kooperativ lösen können; die wachsende
Autorität und Verdichtung der supranationalen Einrichtungen, Regime
und Verfahren, nicht nur auf dem Gebiet der kollektiven Sicherheit;
die Ökonomisierung der Aussenpolitik, die Verwischung der klasssischen
Grenze zwischen Innen- und Aussenpolitik überhaupt. Aber ein pessimistisches
Menschenbild. und ein eigentümlich opaker Begriff "des" Politischen
bilden den Hintergrund für eine Doktrin, die am völkerrechtlichen
Prinzip der Nichtintervention mehr oder weniger uneingeschränkt
festhalten möchte. In der internationalen Wildbahn sollen sich unabhängige
Nationalstaaten nach Massgabe eigener Interessen möglichst ungehindert
nach eigenem Ermessen bewegen können, weil Sicherheit und Überleben
des Kollektivs aus der Sicht der Angehörigen nicht-verhandelbare
Werte sind und weil, aus der Perspektive eines Beobachters gesehen,
die Imperative zweckrationaler Selbstbehauptung die Beziehungen
zwischen den kollektiven Aktoren immer noch am besten regeln.
Aus dieser Sicht begeht die interventionistische Menschenrechtspolitik
einen Kategorienfehler. Sie unterschätzt und diskriminiert die gewissermassen
"natürliche" Tendenz zur Selbstbehauptung. Sie will normative Massstäbe
einem Gewaltpotential überstülpen, das sich der Normierung entzieht.
Carl Schmitt hatte diese Argumentation durch seine eigentümlich
stilisierte "Wesensbestimmung", des Politischen noch zugespitzt.
Mit dem Versuch der "Moralisierung" einer von Haus aus neutralen
Staatsräson, so meinte er, lässt erst die Menschenrechtspolitik
selbst den naturwüchsigen Kampf der Nationen zu einem heillosen
"Kampf gegen das Böse" entarten.
Dagegen erheben sich triftige Einwände. Es ist ja nicht so, als
ob in der postnationalen Konstellation kraftstrotzende Nationalstaaten
von Regeln der Völkergemeinschaft gegängelt würden. Vielmehr ist
es die Erosion der staatlichen Autorität, sind es Bürgerkriege und
ethnische Konflikte innerhalb zerfallender oder autoritär zusammengehaltener
Staaten, die Interventionen auf den Plan rufen - nicht nur in Somalia
und Ruanda, sondern auch in Bosnien und nun im Kosovo. Ebensowenig
findet der ideologiekritische Verdacht Nahrung. Der vorliegende
Fall zeigt, dass universalistische Rechtfertigungen keineswegs immer
die Partikularität uneingestandener Interessen verschleiern. Was
eine Hermeneutik des Verdachts dem Angriff auf Jugoslawien ankreidet,
ist ziemlich mager. Für Politiker, denen die globale Ökonomie innenpolitisch
wenig Spielraum lässt, mag ja aussenpolitische Kraftmeierei eine
Chance bieten. Aber weder das den USA zugeschriebene Motiv der Sicherung
und Erweiterung von Einflusssphären noch das der NATO zugeschriebene
Motiv der Rollenfindung, nicht einmal das der "Festung Europa" zugeschriebene
Motiv der vorbeugenden Abwehr von Einwanderungswellen erklären den
Entschluss zu einem so schwer wiegenden, riskanten und kostspieligen
Eingriff.
Gegen den "Realismus" spricht aber vor allem die Tatsache, dass
die Subjekte des Völkerrechts mit den Blutspuren, die sie in der
Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts hinterlassen haben,
die Unschuldsvermutung des klassischen Völkerrechts ad absurdum
geführt haben. Die Gründung und die Menschenrechtserklärung der
UNO sowie die Strafandrohung für Angriffskriege und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit - mit der Konsequenz einer wenigstens halbherzigen
Einschränkung des Prinzips der Nichtintervention -, dies waren notwendige
und richtige Antworten auf die moralisch signifikanten Erfahrungen
des Jahrhunderts, auf die totalitäre Entfesselung der Politik und
auf den Holocaust.
Schliesslich beruht der Vorwurf der Moralisierung der Politik auf
einer begrifflichen Unklarheit. Denn die angestrebte Etablierung
eines weltbürgerlichen Zustandes würde bedeuten, dass Verstösse
gegen die Menschenrechte nicht unmittelbar unter moralischen Gesichtspunkten
beurteilt und bekämpft, sondern wie kriminelle Handlungen innerhalb
einer staatlichen Rechtsordnung verfolgt werden. Eine durchgreifende
Verrechtlichung internationaler Beziehungen ist nicht ohne etablierte
Verfahren der Konfliktlösung möglich. Gerade die Institutionalisierung
dieser Verfahren wird den juristisch gezähmten Umgang mit Menschenrechtsverletzungen
vor einer moralischen Entdifferenzierung des Rechts schützen und
eine unvermittelt durchschlagende moralische Diskriminierung von
"Feinden" verhindern.
Ein solcher Zustand ist auch ohne das Gewaltmonopol eines Weltstaates
und ohne Weltregierung zu erreichen. Aber nötig ist wenigstens ein
funktionierender Sicherheitsrat, die bindende Rechtsprechung eines
internationalen Strafgerichtshofes und die Ergänzung der Generalversammlung
von Regierungsvertretern durch die "zweite Ebene" einer Repräsentation
der Weltbürger. Da diese Reform der Vereinten Nationen noch nicht
in greifbarer Nähe ist, bleibt der Hinweis auf die Differenz zwischen
Verrechtlichung und Moralisierung eine zwar richtige, aber zweischneidige
Entgegnung. Denn solange die Menschenrechte auf globaler Ebene vergleichsweise
schwach institutionalisiert sind, kann sich die Grenze zwischen
Recht und Moral wie im vorliegenden Fall verwischen. Weil der Sicherheitsrat
blockiert ist, kann sich die NATO nur auf die moralische Geltung
des Völkerrechts berufen - auf Normen, für die keine effektiven,
von der Völkergemeinschaft anerkannten Instanzen der Rechtsanwendung
und -durchsetzung bestehen.
Die Unterinstitutionalisierung des Weltbürgerrechts äussert sich
beispielsweise in der Schere zwischen der Legitimität und der Effektivität
der friedensichernden und friedenschaffenden Interventionen. Srebrenica
hatte die UNO zum Schutzhafen erklärt, aber die Truppe, die dort
legitimerweise stationiert war, konnte nach dem Einmarsch der Serben
das grauenhafte Massaker nicht verhindern. Demgegenüber kann die
NATO der jugoslawischen Regierung nur deshalb effektiv entgegentreten,
weil sie ohne die Legitimation, die ihr der Sicherheitsrat verweigert
hätte, aktiv geworden ist.
Die Menschenrechtspolitik zielt darauf ab, die Schere zwischen diesen
spiegelbildlichen Situationen zu schliessen. Vielfach ist sie aber
angesichts des unterinstitutionalisierten Weltbürgerrechts zum blossen
Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand, den sie zugleich
befördern will, genötigt. Wie kann man unter dieser paradoxen Bedingung
eine Politik betreiben, die den Menschenrechten, notfalls sogar
mit militärischer Gewalt, gleichmässig Nachachtung verschaffen soll?
Die Frage stellt sich auch dann, wenn man nicht überall eingreifen
kann - nicht zugunsten der Kurden, nicht zugunsten der Tschetschenen
oder Tibetaner, aber wenigstens vor der eigenen Haustür auf dem
zerrissenen Balkan.
Ein interessanter Unterschied im Verständnis der Menschenrechtspolitik
zeichnet sich zwischen Amerikanern und Europäern ab. Die USA betreiben
die globale Durchsetzung der Menschenrechte als die nationale Mission
einer Weltmacht, die dieses Ziel unter Prämissen der Machtpolitik
verfolgt. Die meisten Regierungen der EU verstehen unter einer Politik
der Menschenrechte eher ein Projekt der durchgreifenden Verrechtlichung
internationaler Beziehungen, das die Parameter der Machtpolitik
schon heute verändert.
Die USA haben in einer von der UNO nur schwach reglementierten Staatenwelt
die Ordnungsaufgaben einer Supermacht übernommen. Dabei fungieren
Menschenrechte für die Bewertung politischer Ziele als moralische
Wertorientierungen. Es gab natürlich immer isolationistische Gegenströmungen,
und wie andere Nationen verfolgen auch die USA in erster Linie eigene
Interessen, die nicht immer im Einklang mit den erklärten normativen
Zielen stehen. Das hat der Vietnamkrieg gezeigt, das zeigt immer
wieder der Umgang mit Problemen im eigenen "Hinterhof". Aber die
"neue Mischform von humanitärer Selbstlosigkeit und imperialer Machdogik"
(Ulrich Beck) hat in den Vereinigten Staaten Tradition. Unter den
Motiven von Wilson, in den Ersten, und von Roosevelt, in den Zweiten
Weltkrieg einzutreten, gab es eben auch die Orientierung an Idealen,
die in der pragmatistischen Tradition tief verwurzelt sind. Dem
verdanken wir, die 1945 besiegte Nation, dass wir zugleich befreit
worden sind. Aus dieser sehr amerikanischen, also nationalen Sicht
einer normativ orientierten Machtpolitik muss es heute plausibel
erscheinen, den Kampf gegen Jugoslawien, unangesehen aller Komplikationen,
geradlinig und kompromisslos fortzusetzen, nötigenfalls auch mit
dem Einsatz von Bodentruppen. Immerhin hat das den Vorzug der Konsequenz.
Aber was sagen wir, wenn eines Tages das Militärbündnis einer anderen
Region - sagen wir in Asien - eine bewaffnete Menschenrechtspolitik
betreibt, die auf einer ganz anderen, eben ihrer Interpretation
des Völkerrechts oder der UN-Charta beruht?
Anders sieht die Sache aus, wenn die Menschenrechte nicht nur als
moralische Orientierung des eigenen politischen Handelns ins Spiel
kommen, sondern als Rechte, die im juristischen Sinne implementiert
werden müssen. Menschenrechte weisen nämlich ungeachtet ihres rein
moralischen Gehalts die strukturellen Merkmale von subjektiven Rechten
auf, die von Haus aus darauf angewiesen sind, in einer Ordnung zwingenden
Rechts positive Geltung zu erlangen. Erst wenn die Menschenrechte
in einer weltweiten demokratischen Rechtsordnung in ähnlicher Weise
ihren "Sitz" gefunden haben wie die Grundrechte in unseren nationalen
Verfassungen, werden wir auch auf globaler Ebene davon ausgehen
dürfen, dass sich die Adressaten dieser Rechte zugleich als deren
Autoren verstehen können. Die Einrichtungen der UNO sind auf dem
Wege, den Kreis zwischen der Anwendung zwingenden Rechts und der
demokratischen Rechtssetzung zu schliessen. Wo das nicht der Fall
ist, bleiben aber Normen, und seien sie noch so moralisch in ihrem
Inhalt, gewaltsam auferlegte Beschränkungen. Gewiss, im Kosovo versuchen
die Interventionsstaaten die Ansprüche derer durchzusetzen, deren
Menschenrechte von der eigenen Regierung mit Füssen getreten werden.
Aber die Serben, die auf den Strassen von Belgrad tanzen, sind,
wie Slavoj Zizek feststellt, "keine verkappten Amerikaner, die darauf
warten, vom Fluch des Nationalismus erlöst zu werden". Ihnen wird
eine politische Ordnung, die gleiche Rechte für alle Bürger garantieren
mit Waffengewalt aufgenötigt. Das gilt auch unter normativen Gesichtspunkten,
solange nicht wenigstens die UNO gegen ihr Mitglied Jugoslawien
militärische Zwangsmassnahmen beschlossen hat.
Selbst 19 zweifellos demokratische Staaten bleiben, wenn sie sich
selbst zum Eingreifen ermächtigen, Partei. Sie üben eine Interpretations-
und Beschlusskompetenz aus, die, wenn es heute bereits mit rechten
Dingen zuginge, nur unabhängigen Institutionen zustünde; insoweit
handeln sie paternalistisch. Dafür gibt es gute moralische Gründe.
Wer aber im Bewusstsein der Unvermeidlichkeit eines vorübergehenden
Paternalismus handelt, weiss auch, dass die Gewalt, die er ausübt,
noch nicht die Qualität eines im Rahmen einer demokratischen Weltbürgergesellschaft
legitimierten Rechtszwangs besitzt. Moralische Normen, die an unsere
bessere Einsicht appellieren, dürfen nicht wie etablierte Rechtsnormen
erzwungen werden.
Aus dem Dilemma, so handeln zu müssen, als gäbe es schon den voll
institutionalisierten weltbürgerlichen Zustand, den zu befördern
die Absicht ist, folgt jedoch nicht etwa die Maxime, die Opfer ihren
Schergen zu überlassen. Die terroristische Zweckentfremdung staatlicher
Gewalt verwandelt den klassischen Bürgerkrieg in ein Massenverbrechen.
Wenn es gar nicht anders geht, müssen demokratische Nachbarn zur
völkerrechtlich legitimierten Notlage eilen dürfen. Gerade dann
erfordert aber die Unfertigkeit des weltbürgerlichen Zustandes eine
besondere Sensibilität. Die bereits bestehenden Institutionen und
Verfahren sind die einzig vorhandenen Kontrollen für die fehlbaren
Urteile einer Partei, die für das Ganze handeln will.
Eine Quelle von Missverständnissen ist beispielsweise die historische
Ungleichzeitigkeit von politischen Mentalitäten, die aufeinanderstossen.
Zwischen dem Krieg der NATO in der Luft und dem Krieg der Serben
am Boden besteht zwar keine Zeitdifferenz von 400 Jahren, wie Enzensberger
meint. Beim gross-serbischen Nationalismus kommt mir eher Ernst-Moritz
Arndt als Grimmelshausen in den Sinn. Aber Politologen haben festgestellt,
dass sich eine Differenz zwischen "Erster" und "Zweiter" Welt in
einem neuen Sinne herausgebildet hat. Nur die friedlichen, wohlhabenden
OECD-Gesellschaften können es sich leisten, ihre nationalen Interessen
mit dem halbwegs weltbürgerlichen Anspruchsniveau der Vereinten
Nationen mehr oder weniger in Einklang zu bringen.
Demgegenüber hat die "Zweite Welt" (in der neuen Lesart) das machtpolitische
Erbe des europäischen Nationalismus angetreten. Staaten wie Libyen,
Irak oder Serbien gleichen ihre instabilen Verhältnisse im Inneren
durch autoritäre Herrschaft und Identitätspolitik aus, während sie
sich nach aussen expansionistisch verhalten, in Grenzfragen sensibel
sind und neurotisch auf ihre Souveränität pochen. Beobachtungen
dieser Art erhöhen die Hemmschwellen im Umgang miteinander. Heute
rechtfertigen sie die Forderung nach verstärkten diplomatischen
Bemühungen.
Eine Sache ist es, wenn die USA in den Spuren einer wie auch immer
bemerkenswerten politischen Tradition die menschenrechtlich instrumentierte
Rolle des hegemonialen Ordnungsgaranten spielen. Eine andere Sache
ist es, wenn wir den prekären Übergang von der klassischen Machtpolitik
zu einem weltbürgerlichen Zustand über die Gräben eines aktuellen,
auch mit Waffen ausgetragenen Konflikts hinweg als gemeinsam zu
bewältigenden Lernprozess verstehen. Die weiter ausgreifende Perspektive
mahnt auch zu grösserer Vorsicht. Die Selbstermächtigung der NATO
darf nicht zum Regelfall werden.
29. April 1999
Veröffentlichungen
Auf
deutsch
- Wahrheit und Rechtfertigung - Suhrkamp, Frankfurt/M., 1999
- Die postnationalen Konstellationen - Suhrkamp, Frankfurt/M., 1998
- Faktizität und Geltung - Suhrkamp, Frankfurt/M., 1998
- Die neue Unübersichtlichkeit - Suhrkamp, Frankfurt/M., 1996
- Die Normalität einer Berliner Republik - Suhrkamp, Frankfurt/M.,
1995
- Strukturwandel der Öffentlichkeit - Suhrkamp, Frankfurt/M., 1990
- Theorie des kommunikativen Handelns - Suhrkamp, Frankfurt/M.,
1981
Auf französisch
- L'intégration républicaine. Essais de théorie politique - Fayard,
1998
- Droit et démocratie : entre faits et normes - Gallimard, coll.
"Nrf-Essais", 1997
- La paix perpétuelle : le bicentenaire d'une idée kantienne - Ed.
du Cerf, coll. "Humanités", 1996
- Sociologie et théorie du langage - Armand Colin, coll. "Théories",
1995
- La pensée postmétaphysique : essais philosophiques - Armand Colin,
coll. "Théories", 1993
- De l'éthique de la discussion - Ed. du Cerf, coll. "Passages",
1992
- Ecrits politiques : culture, droit, histoire - Ed. du Cerf, coll.
"Passages", 1990
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