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• Die europäische Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur
Durch die Zuspitzung der Kosovo-Krise wurde das Eingreifen der NATO erforderlich - und damit auch das der Vereinigten Staaten mit der logischen und leicht nachvollziehbaren Konsequenz, daß das Krisenmanagement bisweilen eher den amerikanischen als den europäischen Machtinteressen diente. Ein weiteres Mal traten unsere Schwierigkeiten zutage, kohärent und autonom auf Krisen zu reagieren, die sich vor unserer Haustür abspielen, und es war ein weiterer Beleg dafür, daß das Problem weniger in einem "zuviel Amerika" als in einem "zuwenig Europa" besteht Offensichtlich sind die Staaten der Europäischen Gemeinschaft durch das Defizit an militärischen Kapazitäten dazu gezwungen, auf die "leadership" Amerikas zurückzugreifen. Aber selbst wenn bei den strategischen Interessen Übereinstimmung herrschen mag, so sind doch die strategischen Vorstellungen Washingtons nicht unbedingt mit denen der Europäischen Union identisch.©2000
Vice-amiral d'escadre Jacques CELERIER - Direktor des
Nationalen Verteidigungsinstituts (IHEDN)


Zu Beginn dieses Jahrzehnts hat der Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftsbereichs den Europäern die Gelegenheit zu einer Beschleunigung des Sicherheitsprozesses in Europa gegeben, die sie auch wahrnehmen zu wollen schienen. Im Maastricht-Vertrag wurde erstmalig eine "Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik" (GASP) verankert. Gleichzeitig hat uns allerdings die Bosnienkrise konkret unsere Unfähigkeit vor Augen geführt, uns auf ein gemeinsames politisches Projekt zu einigen. Die Entwicklung einer neuen NATO-Strategie wurde den Amerikanern überlassen. Dadurch wurden auch die durch die Westeuropäische Union genährten Hoffnungen gedämpft, es könnten erste Anfänge zu einer autonomen Verteidigung entstehen.

Vor zwei Jahren wurden im Amsterdamer Vertrag, an den sich ebenfalls viele Hoffnungen knüpften, erste Anstrengungen zu einer Annäherung zwischen der Westeuropäischen Union und der Europäischen Union eingeleitet: Dem Generalsekretär des Europäischen Rates wurde nämlich das Amt des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik übertragen und den Handlungsfeldern der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik wurden zusätzlich die sogenannten Petersberger Missionen zugeordnet (humanitäre Einsätze, Rückführungseinsätze von EU-Staatsbürgern, friedenerhaltende bzw. friedenschaffende Einsätze). In diesem Vertrag wurde gleichfalls die Strategieplanungs- und Frühwarneinheit begründet und eine Koordinierung der Rüstungspolitiken angestrebt. Letzten März bot uns die Kosovo-Krise aufs Neue Gelegenheit, unseren Absichtserklärungen erste Anwendungsschritte folgen zu lassen. Unsere Bemühungen führten aber nicht zum Ziel, so dass die Zuspitzung der Krise das Eingreifen der NATO erforderlich machte - und damit auch das der Vereinigten Staaten mit der logischen und leicht nachvollziehbaren Konsequenz, dass das Krisenmanagement bisweilen eher den amerikanischen als den europäischen Machtinteressen diente. Ein weiteres Mal traten unsere Schwierigkeiten zutage, kohärent und autonom auf Krisen zu reagieren, die sich vor unserer Haustür abspielen, und es war, so liesse sich wohl sagen, ein weiterer Beleg dafür, dass das Problem weniger in einem "zuviel Amerika" als in einem "zuwenig Europa" besteht.

Zwar ist der Zusammenhalt während der Kosovo-Krise und die Entschlossenheit der Bündnisstaaten zu begrüssen, die ihrer Verantwortung voll und ganz gerecht geworden sind. Darüber hinaus waren die eingesetzten Kampfmittel auch ohne grössere Reibungsverluste operabel, was einen Beweis für ihre reelle Interoperabilität darstellt. Gleichwohl ist ebenfalls nicht zu leugnen, dass die Staaten der Europäischen Gemeinschaft durch das Defizit an vor allem auch militärischen Kapazitäten dazu gezwungen sind, auf die "leadership" Amerikas zurückzugreifen. Aber selbst wenn bei den strategischen Interessen Übereinstimmung herrschen mag, so sind doch die strategischen Vorstellungen Washingtons nicht unbedingt mit denen der Europäischen Union identisch.

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Europas Willensbekundungen werden immer drängender, auf der Basis eigener militärischer Mittel politischen Ansprüchen Geltung zu verschaffen. Das britisch-französische Gipfeltreffen in Saint-Malo, die Feierlichkeiten zum 50jährigen Bestehen der Allianz in Washington, das deutsch-französische Gipfeltreffen in Toulouse und der Europäische Rat in Köln boten in den letzten Monaten allesamt Gelegenheit zu einer Weiterentwicklung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Zwischen unseren Ländern herrscht Konsens darüber, dass eine solche Weiterentwicklung die politischen Kapazitäten der Europäischen Union verstärken würde. Unsere Aufgabe besteht also nunmehr darin, diesen Willensbekundungen konkrete Schritte folgen zu lassen, nicht etwa, indem theoretisch und abstrakt über eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität nachgedacht würde, sondern vielmehr dadurch, dass die Solidarität zwischen Europäern gestärkt, dass den europäischen Ansprüchen Geltung verschafft und dass gemeinsam über die Mittel befunden wird, wie der Europäischen Union die Handlungsfähigkeit gegeben werden kann, damit sie ihrer Verantwortung gerecht wird.

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Erstes Ziel: Stärkung der Solidarität und Stärkung unserer Zielsetzungen in Fragen der Sicherheit und Verteidigung im Rahmen der Europäischen Union.

Die Übertragung der bereits angesprochenen Petersberg-Missionen in den Aufgabenbereich der Europäischen Union veranschaulicht den lauter werdenden Wunsch der Mitgliedstaaten nach einer gemeinschaftlichen Lösung internationaler Krisen. Damit diese Krisen in all ihren diplomatischen, militärischen, wirtschaftlichen, humanitären und sonstigen Aspekten bewältigt werden können, muss selbstverständlich mit einer einzigen Stimme gesprochen werden. Das bedeutet, dass wir starke, kollektive politische Zielvorstellungen erarbeiten müssen, die nicht nur in einem (notwendig instabilen) Nebeneinander nationaler Ziele bestehen dürfen, sondern die vielmehr die Interessen der Union und die Werte, die selbige zu verfolgen gedenkt, näher zu bestimmen haben. Dabei bedarf es einer gewissen Flexibilität, um die möglichen Entwicklungen in und ausserhalb der Union nicht zu behindern.

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Um unserer Verantwortung gerecht zu werden, brauchen wir zweitens Handlungskapazitäten im Dienst dieser politischen Zielvorstellungen. Konkret bedeutet dies eine Ausstattung mit den notwendigen Mitteln, um diplomatische, militärische oder wirtschaftliche Optionen wahrzunehmen, um kollektiv zu entscheiden und die Ausführung unserer Entscheidungen zu kontrollieren.

Es gibt den Europäischen Rat. Andere kollektive Entscheidungsorgane müssen noch geschaffen werden, u.a. ein Rat der Aussen- und Verteidigungsminister, der die politischen Entscheidungen genauer definieren und die strategischen Optionen - wie z.B. die Förderung einer Präventivdiplomatie, die Gewaltbefriedung bzw. die gewaltsame Durchsetzung des Friedens oder des Rechts - festsetzen können. Ohne eine Revision des EU-Vertrages abwarten zu müssen, ist es heute schon möglich, mit der Einrichtung von drei, im Amsterdamer Vertrag verankerten Institutionen zu beginnen: dem politischen Sicherheitskomitee, dem europäischen Militärausschuss und dem Militärsekretariat. Ausgehend von einem unabhängigen, sowohl zivilen als auch militärischen Gutachten liesse sich damit ein umfassender Analyse-, Entscheidungs- und Handlungskreislauf fruchtbar machen.

Darüber hinaus liesse sich das Satellitenzentrum und das Sicherheitsinstitut der Westeuropäischen Union zu einem der Europäischen Union angehörenden Instrumentarium umfunktionieren. Mit der Einrichtung solch eines ersten Institutionengefüges würde unserem gemeinschaftlichen Wunsch Ausdruck verliehen, den Weg zu einer europäischen Verteidigung zu beschreiten und die Beschlüsse des Kölner Gipfeltreffens in die Tat umzusetzen.

Im übrigen scheint der Gedanke, die Kapazitätsziele - ähnlich wie im Vorfeld zur Bildung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion - in der Form von "Konvergenzkriterien" zu definieren, bei den Mitgliedstaaten der Union zunehmend auf Zustimmung zu stossen. Dieser Gedanke sollte die Staaten Europas dazu bewegen, ihre Verteidigungsanstrengungen in finanzieller und technologischer Hinsicht, aber auch hinsichtlich ihrer Einsatzfähigkeit auf einem glaubhaften Niveau zu halten oder dieses zu erreichen. Dies wäre der Beweis für eine existierende gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik. Allerdings müssen sie dafür erst einmal definiert und dann auch verfolgt werden! Genau darin besteht die wichtigste, noch vor uns liegende Aufgabe.

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Drittes Ziel: Die Befähigung zu selbständigen Militäraktionen, denn ohne glaubwürdige Zwangsmittel ist eine Aussenpolitik nicht vorstellbar. Das heisst aber, dass unabhängige Aufklärungs-, Kommando- und Projektionsstrukturen errichtet werden müssen, drei Bereiche, in denen Europa noch nicht über die Möglichkeiten verfügt, um ohne amerikanische Hilfe handlungsfähig zu sein. Und das bedeutet weiterhin, dass es multinationaler militärischer Einsatzkräfte bedarf, die auf Missionen, die ihnen eventuell anvertraut werden könnten, vorbereitet sind.

Die multinationalen Einsatzkräfte als Ergebnis einer von mehreren Staaten ergriffenen Initiative bilden die materielle Entsprechung der militärischen Kapazitäten eben dieser Staaten, einen konkreten Beitrag zu einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu leisten. Ob es sich nun um das Euro-Korps handelt, um Euromarfor oder auch um das Europäische Trägergeschwader, diese und alle anderen multinationalen europäischen Verbände liefern zur Zeit lediglich punktuelle Antworten auf krisenhafte Herausforderungen. Sie sind allzu unterschiedlich in ihrer Zielsetzung, ihren Kapazitäten, ihrer Organisation und ihrem Einsatzrahmen. Die Effizienz wird von ihrer Homogenität, von ihrer Interoperabilität und ihrer Fähigkeit abhängen, auf der Grundlage eines harten Kerns und einer permanenten Empfangsstruktur ad-hoc-Generalstäbe zu bilden. Deswegen müssen jedem einzelnen dieser Einsatzverbände nunmehr klare und präzise Aufgabenbereiche und Ziele zugeordnet werden. Dabei sollten Kapazitäten höherer Dringlichkeit festgesetzt werden, über die jeder einzelne Verband zu verfügen habe, um die Aufgaben zu erfüllen, die ihm innerhalb oder ausser-halb der NATO anvertraut werden könnten. Diesbezüglich darf aber auch nicht versäumt werden, die Verfügbarkeitsbedingungen sowie die für die Geberländer gültigen Manövermodalitäten und -niveaus zu definieren, um den politischen Entscheidungsinstanzen die Einsatzfähigkeit der Verbände garantieren zu können.

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Ein letzter Punkt: In Ermangelung einer Standardisierung ist die Befähigung zu Militäraktionen natürlich nur über eine Interoperabilität und Kompatibilität der Ausrüstung möglich, und damit auch nur über eine weitergehende Zusammenarbeit in Rüstungsfragen und über eine zu schaffende europäische Rüstungsindustrie, die der amerikanischen Konkurrenz standzuhalten und gegen diese in einen Technologiewettbewerb einzutreten vermag. Seit langem schon bemühen sich die europäischen Staaten darum, der Begrenztheit ihrer Heimatmärkte durch Kooperationen Abhilfe zu verschaffen, und bei der Westeuropäische Rüstungsorganisation (WEAG) angefangen bis hin zur Joint Armements Cooperation Structure (OCCAR) und den Umstrukturierungen vor allem im Bereich der Luftfahrtindustrie beginnt sich eine erste Basis herauszubilden. Der Konzentrationsgrad der Rüstungsindustrie in Europa liegt allerdings auf einem deutlich niedrigeren Niveau als in den Vereinigten Staaten, während die Gesamtsumme aller europäischen Verteidigungshaushalte durchaus mit den Aufwendungen in Amerika vergleichbar ist.

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Selbstverständlich sind solche Strukturen, mit denen die Union die ihr zufallende Verantwortung erst übernehmen, gemeinsame Strategien erarbeiten und autonome Militäraktionen in Angriff nehmen kann, nicht als Konkurrenz, sondern vielmehr als Ergänzung zur Atlantischen Allianz gedacht. Im übrigen wurde im April dieses Jahres auf dem Washingtoner Gipfel erneut bestätigt, dass die raison d'être der Allianz, die uns seit einem halben Jahrhundert den Frieden sichert, in einer kollektiven Verteidigung zu suchen ist. Keine andere Organisation kann eine derart hohe, auf wechselseitiger Achtung und auf Solidarität beruhende Leistungsgarantie geben. Es kann aber auch niemandem entgangen sein, dass dieses Band durch ein partnerschaftliches Gleichgewicht zwischen Europa und den Vereinigten Staaten nur gestärkt werden kann, entsteht doch ein Zusammengehörigkeitsgefühl in einem Bündnis erst auf der Basis eines wirklichen Dialogs.

So ist es also unsere Aufgabe, unseren Teil an den kollektiven Sicherheitsbemühungen ernsthaft zu übernehmen, und sei es nur, um einer Denkrichtung in der amerikanischen Öffentlichkeit keinen Vorschub zu leisten, die den amerikanischen Steuerzahler davon überzeugen könnte, dass er die Verteidigung eines allzu sorglosen Europa als Verlustgeschäft finanziert. Dann würde ein Rückzug aus den militärischen Verpflichtungen nur allzu schnell ins Auge gefasst werden.

Und wir müssen gleichfalls darauf achten, dass die Allianz als "nordatlantische" kollektive Verteidigungsorganisation Einsätze auf der erforderlichen Grundlage eines UNO-Mandats führt und durch ihr Engagement zur Stärkung der Bedeutung und Festigung der Kompetenzen des Sicherheitsrates dieser Organisation beiträgt.

Ausserdem dürfen wir zwei Hauptakteure europäischer Sicherheit, Russland und die Ukraine, nicht von unseren Bemühungen ausschliessen. Ihre Entwicklung ist zwar überaus unsicher, doch sind es langfristig - allein schon aufgrund ihres historischen und geopolitischen Potentials - starke Militärmächte.

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Europa entwickelt sich schrittweise weiter. Der europäische Sicherheitsprozess ist Teil eines langsamen und kontinuierlichen Prozesses, der in vielerlei Hinsicht mit dem Prozess zu vergleichen ist, der letztlich zu einem europäischen Wirtschafts- und Währungsraum mit Einheitswährung geführt hat. Erst wenn eine "Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik" ernsthaft verfolgt wird, wird es Europa gelingen, den zur Zeit vorherrschenden Eindruck seiner Ohnmacht zu verwischen und sich Entscheidungsstrukturen zu geben, wie sie seiner Wirtschaftskraft angemessen sind. Erst wenn ein entsprechendes Militärpotential entsteht, wird Europa bei der Konfliktprävention und dem Krisenmanagement vollständig und effizient als einer der Gleichgewichtspole mitwirken, die die Welt benötigt.

Eigene Übersetzung des Forum



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