Zeitschrift
GASP
Zeitschrift Der Herausgeber Synthesen Verträge/ Gesetze Institutionen / Wahlen Literatur Unsere Partner

Startseite
Europa
Gasp - Verteidigung
Recht
Wirtschaft
Kultur
Eintrag
Streichung


• Ansichten der deutsch-französischen Beziehungen
Aufgrund seiner Bedeutung und seines Einflusses in West-, Mittel- und Osteuropa stellt Deutschland unbestritten eine Regionalmacht dar. Seine Rolle als drittgrößte Wirtschaftsmacht verleiht ihm einige Merkmale einer sich herausbildenden Großmacht. Die Gefahr besteht heute aber nicht so sehr darin, daß es im Widerspruch zu dem Projekt Europa nach einer Stärkung der "nationalen Sichtweise" streben könnte. Weitaus beunruhigender erscheint Deutschlands Hinwendung zu seinen innenpolitischen Schwierigkeiten. Nichts wäre für die deutsch-französischen Beziehungen schädlicher als ein sich in Selbstzufriedenheit ergehender Immobilismus. Unsere Bemühungen sollten also hauptsächlich auf die Annäherung der Menschen und der Völker zielen.© 2000
Xavier de VILLEPIN - Senator Vorsitzender des Ausschusses für
Auswärtiges, Verteidigung und Streitkräfte


" Für die Mehrheit der Franzosen war Deutschland 1914 der Erbfeind. Zum Jahrhundertende ist es zum wichtigsten Partner Frankreichs geworden und gilt in einer Reihe von Bereichen als Vorbild. Stets war Deutschland problematisch oder mit Zweifeln behaftet, ein Doppel- oder ein Spiegelbild und ein Land, auf das sich Frankreich zu seiner Selbstbestimmung bevorzugt bezog."

Das sind Worte des Historikers Georges-Henri Soutou. Seine Sichtweise ist wegen ihrer Objektivität verdienstvoll. Er kündet nicht von dem nächsten Krieg zwischen Deutschland und Frankreich oder von einer neuen Auseinandersetzung im Jahre 2010 und weckt auch nicht die Ängste der Vergangenheit.

Über die Entwicklung unseres Partners, die Zukunftsprobleme und die möglichen Reformen muss in gemeinsamem Interesse nachgedacht werden.

Deutschland verändert sich

Deutschland hat seine Souveränität wiedererlangt, sein Territorium und seine Bevölkerung vergrössert. Eine neue Generation, die den Krieg nicht mehr erlebt hat, gelangt an die Macht. Die Wiedereinsetzung Berlins als Hauptstadt versinnbildlicht diesen Wandel.

Im Unterschied zur Nachkriegszeit hat Deutschland keine von aussen aufgezwungene Identität mehr zu übernehmen. Es muss sich seine eigene Persönlichkeit ausbilden.

Wie auch für uns Franzosen besteht sein eigentliches politisches Problem darin, was das in steter Ausweitung begriffene Sozialsystem ersetzen soll, damit in Zukunft das Ziel des inneren Zusammenhalts aufrechterhalten werden kann.

Aufgrund seiner Bedeutung und seines Einflusses in West-, Mittel- und Osteuropa stellt Deutschland unbestritten eine Regionalmacht dar. Seine Rolle als drittgrösste Wirtschaftsmacht verleiht ihm einige Merkmale einer sich herausbildenden Grossmacht. Die Gefahr besteht heute nicht so sehr darin, dass es im Widerspruch zu dem Projekt Europa nach einer Stärkung der "nationalen Sichtweise" streben könnte. Weitaus beunruhigender erscheint Deutschlands Hinwendung zu seinen internen Schwierigkeiten: eine noch nicht vollzogene Einheit, ein in Frage gestellter Föderalismus, die Überalterung der Bevölkerung, eine Gesellschaft, die sich angesichts eines neuen Staatsangehörigkeitsrechts erst noch finden muss. Bei fehlender innerer Vitalität könnte Deutschland sein Heil allerdings in einer "Venediger Versuchung" suchen(1).

Nichts wäre für die deutsch-französischen Beziehungen schädlicher als ein sich in Selbstzufriedenheit ergehender Immobilismus.

Angesichts der Zukunft

Die mechanisch erfolgenden Kontakte führen bisweilen dazu, dass übersehen wird, dass in einer Vielzahl von Problemfeldern (mehr oder weniger föderale Zukunft der europäischen Einigung, Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, Russland, dem Balkan, der moslemischen Welt) immer noch kein grundsätzliches Einvernehmen zwischen unseren beiden Ländern herrscht. Von eben diesem Einverständnis wird allerdings die Zukunft Europas abhängen: ein steter und ausgewogener Einigungsprozess oder eine Freihandelszone. Unterdessen fehlt es nicht an konkreten Schwierigkeiten. Drei Themen zeichnen sich am Horizont ab:

- Die Zukunft des Rheinischen Kapitalismus
Deutschland könnte sich auf einen nunmehr weltweit den Ton angebenden Profitkapitalismus zubewegen. Das traditionelle System kundennaher Hausbanken scheint einer Logik zu weichen, die dem Aktionärstum den Vorzug gibt. Sollte sich dieser Wandel als unumkehrbar herausstellen, würde dies letztlich zu einer tiefgreifenden Veränderung führen.

- Die Zukunft der Atomenergie
Die deutsche Politik zwischen den Energiebetreibern und der Regierung ist weltweit einzigartig. Nirgendwo sonst wird behauptet: in 25 Jahren wird Ihr Kraftwerk geschlossen. Hinsichtlich der Investitionen stellt dies ein weitreichendes finanzielles und wirtschaftliches Problem dar. In den Vereinigten Staaten ist man im Begriff die Laufzeiten der Kraftwerke von 40 auf 60 Jahre zu erhöhen.

- Die Luftfahrtpolitik
Die grossen Projekte - Airbus, das künftige Grossraumflugzeug A3 XX und das militärische Transportflugzeug A.T.F. - geben zu schwierigen Verhandlungen Anlass. Franzosen, Deutsche und Spanier sollten sich mit der Gründung der Gesellschaft EADS verschmelzen. Die Konkurrenz zwischen Rafale und dem Eurofighter wird noch lange andauern.

Was ist zu tun?

Divergenzen hinsichtlich der wirtschaftlichen und industriellen Sachverhalte werden nicht zu vermeiden sein.

Unsere Bemühungen sollten also auf die Annäherung der Menschen und der Völker zielen. Wir müssen den Standpunkt des Anderen anhören und im voraus verstehen.

Die Sprache ist ein ganz grundlegendes Erfordernis. Es ist keine gesunde Entwicklung, dass immer weniger Franzosen Deutsch sprechen und umgekehrt. In Deutschland wird zu 58% Englisch und zu 22% unsere Sprache gesprochen. In Frankreich wird Englisch beim Abitur in 80% der Fälle geprüft und Deutsch in 12%.

Unsere Nachbarn möchten Deutsch zu einer der drei grossen, bevorzugten Sprachen der Union machen. Diese Forderung wird von einer an uns gestellten Erwartung begleitet, die einen Solidaritätstest darstellt. Das Drängen hat mit der Erweiterung zu tun, mit dem Beitritt deutschsprachiger Staaten. Frankreich wird nach seiner Antwort beurteilt werden. Sollte diese ausweichend ausfallen, würde davon nur das Englische profitieren, und das Deutsche und das Französische würden in den Hintergrund gedrängt werden.

Über diese Schwierigkeiten hinaus gilt es, das Deutsch-Französische Jugendwerk neu zu beleben und es auch mit Krediten auszustatten. Unsere gemeinsame Zukunft liegt in der Zusammenarbeit und in dem steten Austausch zwischen unseren Kulturen. Es müssen neue gedankliche Wege eingeschlagen werden, um für weniger Gleichgültigkeit und mehr alltägliche Annäherung zu sorgen.

Warum sollte man sich nicht vorstellen können, dass als Ersatz für die Konsulate in den Präfekturen und in den Gemeindehäusern Büros für die Angehörigen des jeweils anderen Staates eingerichtet werden? Eine Verschränkung unserer Verwaltungsstrukturen, um uns besser kennen zu lernen. Im Ausland könnte der Gedanke an gemeinsame Botschaften, ja sogar an gemeinsame Kulturzentren wieder aufgegriffen werden, so dass damit auch nationalen Haushaltsengpässen in umfassenderen Einrichtungen entgangen werden könnte.

Schlussfolgerung

"Deutschland? ... Ja, ein grosses Volk. Sicher, ein grosses Volk … Nur was soll man damit jetzt anfangen". Diese launige Äusserung von Charles de Gaulle im Jahre 1946 hat heute keine Gültigkeit mehr. Die Zeit und die Menschen haben die Ausgangslage verändert.

Auf dem Weg von Bonn nach Berlin gilt es allerdings noch, Argwohn zu zerstreuen.

"Deutschland wird nur dann zu stark sein, wenn Frankreich zu schwach ist".
______________________

(1) Es handelt sich bei der 'Venediger Versuchung' um ein Buch des ehemaligen französischen Premierministers Alain Juppé zur aktuellen Situation der Politiker angesichts der Last ihrer Verantwortung vor der Öffentlichkeit und der zunehmenden Kritik an ihrer Person.

Eigene Übersetzung des Forum



© Alle Rechte vorbehalten.