Europa
hat im Dezember in Helsinki einen wichtigen Schritt getan auf der
Suche nach dem Ausdruck seiner verteidigungspolitischen Identität,
die es ihm ermöglicht, seiner internationalen Rolle voll und ganz
gerecht zu werden. Man muss darin eine Fortsetzung des im Dezember
1998 auf dem französisch-britischen Gipfeltreffen von Saint-Malo
eingeleiteten Prozesses sehen, der anschliessend vor allem auf dem
französisch-britischen Gipfel vom 25. bzw. auf dem britisch-deutschen
Gipfel vom 30. November 1999 weitergeführt worden war. Infolge der
Kosovo-Erfahrung haben wir begriffen, dass die Länder des Alten
Kontinents ihre Militärkapazitäten verdichten müssen, um bei militärischen
Interventionen der Nato ihre Nützlichkeit unter Beweis stellen zu
können und Operationen zum Krisenmanagment dort durchzuführen, wo
die Allianz als solche nicht tätig wird.
Das Vereinigte Königreich sagt seit langem, dass Europas Wünsche
nach einer Aussen- und Sicherheitspolitik so lange folgenlos bleiben
werden, wie nicht für die Ausstattung mit den notwendigen Kapazitäten
gesorgt wird, die seinen Anliegen auf diesem Gebiet erst Nachdruck
verleihen. Wie der ehemalige Verteidigungsminister George Robertson
sagte, wird man eine Krise nicht bewältigen, indem man ein Institutionengefüge
auf dem Papier entwirft. Europa wird nur dann eine wahrhafte verteidigungspolitische
Identität bekommen, wenn ihm die notwendigen Militärkapazitäten
verliehen werden, um zur Durchsetzung seiner gemeinsamen Aussen-
und Sicherheitspolitik wirkliche Interventionen am Boden, zu Wasser
und in der Luft zu führen.
Das Kosovo hat gezeigt, dass wir einen grösseren Teil der europäischen
Verteidigung kollektiv übernehmen müssen. Davon sind wir aufgrund
fehlender Kapazitäten augenblicklich weit entfernt. Wenn wir unsere
Verteidigung und unsere Sicherheit wirklich wieder selbst in die
Hand nehmen wollen, müssen wir zügig die diesbezüglich notwendigen
konkreten Anordnungen treffen. Die europäischen Entscheidungsträger
sind sich jeder für sich und gemeinsam darüber im Klaren, dass Europa
mehr zu leisten hat. Die Frage ist nur, inwiefern und wie dies geleistet
werden kann. Wir müssen uns ein präzises Ziel stecken und uns über
die einzuschlagende Richtung verständigen. Wenn es in unserer Absicht
liegt, mit der Verteidigungsinitiative etwas zu erreichen, müssen
wir uns ein ehrgeiziges, aber auch erreichbares Ziel stecken.
Der Europäische Rat hat in Helsinki die Mittel bestimmt, über die
wir verfügen müssen, um im Rahmen von anspruchsvollen Aufgaben,
z.B. von "Petersberger Missionen", militärisch eingreifen zu können,
egal ob diese nun unter der Ägide der NATO oder der Europäischen
Union stehen. Genauer gesagt, müssen wir schnell und langfristig
einsatzfähige Streitkräfte mobilisieren können, die das Niveau eines
Armeekorps von ungefähr 50.000 bis 60.000 Mann haben und die über
die notwendigen Kapazitäten im Bereich der Kommandostrukturen, der
Durchführung von Einsätzen und Aufklärungsoperationen, der Logistik,
der Hilfs- und Kampfeinheiten verfügen sowie über angemessene Einsatzmöglichkeiten
zu Wasser und in der Luft. Die fünfzehn Mitgliedstaaten haben sich
in Helsinki gleichfalls dazu verpflichtet, die notwendigen Entscheidungsorgane
zur Durchführung von Militäroperationen und deren politischer und
strategischer Steuerung einzurichten.
Auf dem deutsch-französischen Gipfel in Paris am 30. November haben
die beiden Länder die europäische Verteidigungsfrage entscheidend
vorangetrieben. Sie haben sich darauf verständigt, die Umgestaltung
des Euro-Korps in eine europäische schnelle Eingreiftruppe fortzusetzen,
die den jetzigen Generalstab der KFOR im Kosovo ablösen könnte.
Darüber hinaus haben sie die Öffnung des Euro-Korps für Verbindungsoffiziere
aus Staaten begrüsst, die, wie das Vereinigte Königreich, bisher
noch nicht daran teilnehmen.
Wenn der erwünschte Durchbruch eine Frage der Kapazitäten ist, dann
ist er allerdings auch eine Frage der Institutionen. Denn die Union
muss erst die Voraussetzungen für die technischen Strukturen schaffen
sowie für die notwendigen Organe zur Lageanalyse, zur Entscheidungsfindung
und zur Durchführung der auf der Basis der Gemeinsamen Aussen- und
Sicherheitspolitik gründenden Operationen. In Helsinki hat der Europäische
Rat beschlossen, in Brüssel ein politisches Komitee einzurichten,
das sich aus Vertretern der ständigen Mitgliedstaaten zusammensetzt
und mit der tagtäglichen Lageanalyse betraut ist. Dieses Komitee
kann auf den Sachverstand eines militärischen Komitees zurückgreifen,
dem wiederum ein militärischer Generalstab zur Seite steht. Es wird
dabei unerlässlich sein, dass die drei ständigen Einrichtungen enge
und vertrauensvolle Beziehungen zur NATO herstellen.
Denn wir müssen in diesem Zusammenhang die derzeit in europäischen
Sicherheits- und Verteidigungsfragen befindenden Institutionen verstärken.
Die NATO bildet die Grundlage unserer kollektiven Verteidigung und
wird auch in Zukunft eine wichtige Rolle für das Krisenmanagement
spielen. Dadurch, dass wir Europa mit eigenen Militärkapazitäten
versehen, verstärken wir nicht allein seine Interventionsfähigkeit,
sondern konsolidieren darüber hinaus auch die Atlantische Allianz.
Gegenstand der europäischen Verteidigungspolitik, die sich heute
herauszubilden versucht, muss es sein, die NATO zu ergänzen, nicht
aber sie zu ersetzen. Es ist wichtig, dass unsere Verbündeten und
im besonderen die Amerikaner diesbezüglich keinerlei Zweifel hegen
und wissen, dass unsere Absichten in nichts anderem bestehen und
das Resultat unseres Handelns in nichts anderem bestehen wird.
Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass unsere europäischen Verbündeten,
die nicht Mitglied der Union sind, an der Bildung dieses Armeekorps
teilnehmen können und dass sie an der unionsinternen Ausarbeitung
eines Grundsatzprogramms, das dessen Einsatz bestimmt, und auch
an den Entscheidungsprozessen für einen solchen Einsatz beteiligt
werden.
Eine Sache ist es, ehrgeizige Ziele zu formulieren, doch müssen,
um diese nicht aus dem Auge zu verlieren, die Fortschritte, die
erzielt worden sind, einer Bewertung unterzogen werden. Diesbezüglich
spricht sich das Vereinigte Königreich für die Einführung eines
multilateralen Kontrollmechanismus aus, der vor dem Hintergrund
der gesteckten Ziele eine regelmässige Einschätzung der erzielten
Fortschritte sowohl in kollektiver als auch in nationaler Hinsicht
ermöglichen würde. Für eine schnelle Entwicklung dieses kollektiven
Verteidigungsinstruments sind grosse Anstrengungen Voraussetzung.
Es wird von dem Beitrag jedes einzelnen abhängen. Wir können uns
auf die vorhandenen Planungsorgane stützen, inklusive auf die der
NATO, weil das Bündnis sich in Washington dazu bereit erklärt hat,
diese Europa anzunähern.
Seit Saint-Malo haben wir eine beachtliche Wegstrecke zurückgelegt,
doch ist der verbleibende Weg noch weit. In der Zwischenzeit müssen
wir einen Mechanismus begründen, der sich - im Einvernehmen mit
WEU und NATO - als funktionstüchtig erweist. Wir müssen darauf achten,
dass jeder Mitgliedstaat seinen Beitrag dazu leistet und uns das
Ende der französischen Unionspräsidentschaft im Dezember 2000 als
Richtmarke setzen. Ein anspruchsvolles Programm. Es werden uns noch
schwierige Entscheidungen und harte Verhandlungen bevorstehen. Vor
allem wird es darauf ankommen, dass alle Mitgliedstaaten die notwendigen
Mittel zur Verfügung stellen und damit ihren Willen unter Beweis
stellen, die angestrebte europäische Verteidigungspolitik inhaltlich
zu konkretisieren.
Es handelt sich dabei nicht allein um ein Ziel, das für uns erreichbar
ist, sondern auch um eine Notwendigkeit, wenn die Europäische Union
weltweit ihren Einfluss geltend machen und mit den Vereinigten Staaten
gleichberechtigt zusammen arbeiten will.
Eigene Übersetzung des Forum
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