Generalsekretär des Rates der EU - Hoher Vertreter für die GASP
(seit dem 18. Okt. 1999) Generalsekretär der WEU (seit dem 25. Nov.
1999)
Der Eintritt
in ein neues Jahrhundert - mehr noch, in ein neues Jahrtausend -
hat hohen symbolischen Wert. Einige verbinden diesen Augenblick
mit grossen Erwartungen, andere wiederum mit Skepsis. Vor genau
hundert Jahren, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, herrschte unter
der Mehrzahl der Europäer die Hoffnung, dass das neue Jahrhundert
Frieden und Wohlstand von bisher ungekannten Ausmassen bringen würde.
Leider erwies sich ihr Optimismus als trügerisch.
Aber Geschichte wiederholt sich nicht. Sicherheit im 21. Jahrhundert
ist das, was wir daraus machen. Sicherheit kann gestaltet werden
- wir sind nicht dazu verurteilt, Opfer von Geschehnissen zu werden,
die sich unserer Kontrolle entziehen. Wir haben vielmehr die Mittel
und das Instrumentarium, um die Dinge in die richtige Richtung zu
lenken.
An Herausforderungen wird es im 21. Jahrhundert nicht fehlen. Globalisierung,
um nur ein Beispiel zu nennen, bringt unseren Gesellschaften mehr
Kreativität und Wohlstand, macht sie jedoch auch verwundbarer. Die
rasche Verbreitung von Technologien und Information ermöglicht völlig
neue Produktionsweisen, birgt jedoch auch die Gefahr, dass mehr
Staaten Massenvernichtungswaffen entwickeln. Wie sich im Kosovo
eindrucksvoll zeigte, stellen uns regionale Konflikte vor die dramatische
Wahl zwischen Indifferenz und Engagement und damit vor zwei gleichermassen
kostspielige Alternativen. Wirtschaftlicher Abschwung, Umweltkatastrophen
oder Regionalkonflikte können dazu beitragen, dass Migration zu
einer völlig neuen Herausforderung wird.
Ausmass und Vielfalt dieser Herausforderungen können nur innerhalb
eines breiten Sicherheitskonzepts sinnvoll angegangen werden, eines
Konzepts, das nicht nur militärisch angelegt ist, sondern auch politische,
wirtschaftliche und soziale Aspekte mit einschliesst. Nur ein solcher
umfassenderer Ansatz gibt uns die Möglichkeit, über das Kurieren
an den Symptomen hinauszugelangen.
Menschlichkeit und Menschenrechte müssen im Mittelpunkt dieses umfassenderen
Ansatzes stehen. Eine Sicherheitspolitik, die nicht an den Bedürfnissen
des Menschen und an Menschlichkeit ausgerichtet ist, geht am Ziel
vorbei. Tatsächlich wird die Mehrzahl heutiger Konflikte zwischen
und in Staaten ausgetragen, die die grundlegenden Bedürfnisse des
Menschen missachten. Dies gilt auch für die Krise im Kosovo. Sicherheit
im 21. Jahrhundert muss zunächst und vor allem menschliche Sicherheit
sein.
Die Umsetzung eines solchen umfassenden Sicherheitsansatzes erfordert
das Mitwirken aller grossen Institutionen. Denn nur im globalen
Rahmen, innerhalb einer Sicherheitsarchitektur also, können wir
den neuen Herausforderungen rechtzeitig begegnen oder, besser noch,
sie bereits im Keim ersticken.
Die Schlüsselelemente einer solchen Architektur sind bereits vorhanden:
Europäische Union, NATO, OSZE und Vereinte Nationen. Jede einzelne
dieser Institutionen ist mit einem spezifischen Sicherheitskonzept
verbunden. Gemeinsam könnten sie eine neue Qualität von Sicherheit
im 21. Jahrhundert schaffen.
Der europäische Integrationsprozess, der in der Europäischen Union
seinen Ausdruck findet, ist das wohl anspruchsvollste Element dieser
Architektur. Er muss ausgeweitet und auch vertieft werden. Seine
Ausweitung bedeutet, die einzigartigen Errungenschaften politischer
und wirtschaftlicher Integration auf andere Staaten auszudehnen,
denen es an wirtschaftlicher Dynamik und europäischer Identität
fehlt. Mit seiner Vertiefung wird sichergestellt, dass Europa der
Globalisierung als wirtschaftlicher Herausforderung begegnen kann.
Die EU hat durch die Schaffung der Europäischen Währungsunion bereits
gezeigt, dass sie entschlossen ist, dieser Herausforderung zu begegnen.
Der nächste Schritt wäre eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik,
damit Europa die Rolle spielen kann, die seiner wirtschaftlichen
Stärke entspricht.
Die NATO, Ausdruck transatlantischer Partnerschaft, will auch das
strategische Umfeld im Sinne eines umfassenderen Sicherheitsansatzes
gestalten. Durch die Erweiterung des Bündnisses werden alte Trennlinien
aufgehoben, wird Vertrauen in die neuen Demokratien im Osten projiziert.
Die Bereitschaft der NATO, ihre Türen zu öffnen - und geöffnet zu
halten - bedeutet für die Staaten mit denselben Zielsetzungen und
Werten einen starken Ansporn, ihren Reformkurs fortzusetzen. Durch
die stete Vertiefung der Beziehungen zu Nicht-Mitgliedsstaaten,
einschliesslich eines stabilen Verhältnisses zu Russland, kann die
NATO darüber hinaus die Voraussetzungen für eine neue Sicherheitskultur
schaffen, die sich auf den gesamten euro-atlantischen Raum erstreckt.
Die NATO will den "harten" Sicherheitsproblemen der Zukunft in der
Form nuklearer Weiterverbreitung und Regionalkonflikten mit einer
neuen Politik entgegentreten. Und schliesslich muss das Bündnis
eine reifere transatlantische Beziehung entwickeln, in der Rollen
und Aufgaben zwischen Europa und Nordamerika gerechter verteilt
sind.
Besonders wichtig ist jedoch die Tatsache, dass die NATO sich als
eine Gemeinschaft gezeigt hat, die nicht nur gleiche Sicherheitsinteressen,
sondern auch gleiche Werte verbindet. Im Kosovo, wo diese Werte
besonders bedroht waren, hat das Bündnis gehandelt. Damit wurde
der ethnischen Säuberung ein Ende gesetzt, mehr als eine Million
Flüchtlinge konnten nach Hause zurückkehren. Heute tragen die NATO
und die EU gemeinsam dazu bei, eine bessere Zukunft für ganz Südosteuropa
zu schaffen.
Die erfolgreiche Umgestaltung von EU und NATO zeigt, dass die euroatlantische
Partnerschaft tragende Kraft einer neuen Sicherheitsarchitektur
bleibt. Die Vereinten Nati starke EU verlassen, wenn es um Krisenmanagement
auf dem alten Kontinent geht. Und monen können sich weiterhin auf
die Unterstützung durch eine starke NATO und eineit ihrem Beitrag
zur festen Verankerung demokratischer Werte auf diesem Kontinent
werden NATO und EU die OSZE in ihrer eigentlichen Funktion als moralische
Autorität und normengebende Institution unterstützen.
Ich komme also zu dem klaren Schluss: ein umfassendes Sicherheitskonzept,
das im Rahmen einer kooperativen Sicherheitsarchitektur verwirklicht
wird, ist die beste Voraussetzung für die Schaffung von Sicherheit
im 21. Jahrhundert. Schlüsselelemente dieser Architektur sind ein
integriertes Europa und ein der Aussenwelt geöffnetes Nordamerika.
Gemeinsam bilden sie eine der stärksten Verbindungen gleichgesonnener
Demokratien. Gemeinsam können sie der Herausforderung des Wandels
begegnen.
Brüssel, den 1. Oktober 1999
|